Zu Besuch bei Sabine Wiewicke: "Premiumkunden fallen nicht vom Himmel"

Das Umfeld, in denen sich Hörakustikfachbetriebe bewegen, ist stets unterschiedlich zu bewerten. Ein Aspekt ist der ökonomische Wohlstand einer Region. Inwieweit wirkt sich der auf die Betriebe aus? Was müssen sie anders machen? Und was bedeutet das für die Versorgungsqualität der Kunden? Audio Infos besuchte einen jungen Betrieb in Sangerhausen, Sachsen-Anhalt: Hörgeräte Sabine Wiewicke.

Veröffentlicht am 24 April 2019

Zu Besuch bei Sabine Wiewicke: „Premiumkunden fallen nicht vom Himmel“

Heutzutage ein Hörakustikfachgeschäft zu eröffnen, ist nicht leicht. Unabhängig davon, ob ein Konzept gut durchdacht ist; die Zeiten, in denen es zahlreiche weiße Flecken auf der Landkarte gab, sind vorbei. Wer sich für die Selbstständigkeit entscheidet, wird mit anderen Betrieben wetteifern müssen.

Die Rahmenbedingungen hierfür sind jedoch stets verschieden. Ein Geschäft in Hamburg Blankenese beispielweise wird eine andere Herangehensweise bevorzugen als ein Geschäft  im bayrischen Wald. Das Wort „Stadtmitte“ oder „Zentrumslage“ sagt daher nur bedingt etwas aus. Dennoch hängt vieles – das hört man von Hörakustikern immer wieder – vom richtigen Standort ab. Doch was bedeutet das im Umkehrschluss? Je unattraktiver ein Standort oder eine Region ist, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, eine gute Hörversorgung zu erhalten?

Aus diesem Grund entschloss sich die Redaktion eine Region anzusteuern, in der der ökonomische Wohlstand selten vom Himmel gefallen ist: den Landkreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt. An der Grenze zu Thüringen befindet sich Sangerhausen, ein kleines 25.000 Einwohnerstädtchen, das im Dreieck zwischen Erfurt, Nordhausen und Halle Saale liegt.

ÖPNV ist höchstens eine Möglichkeit
Von weitem ist die hohe Linde zu sehen, eine Schachthalde von knapp 400 Metern Höhe. Zu DDR-Zeiten wurde hier Kupfer abgebaut. Die Region zählt mit einer Arbeitslosenquote von etwa 17 Prozent zu den wirtschaftlich schwächsten Gebieten der Republik. Bis auf das Europa-Rosarium, der größten Rosensammlung der Welt, und der Sachsenring Bike Manufaktur GmbH (früher MIFA/Mitteldeutsche Fahrradwerke), die in Sangerhausen den größten Arbeitgeber darstellt, gibt es nicht viel, was einen anlocken würde. Nichtsdestotrotz macht man in Sangerhausen Hörakustik. Vier Akustikbetriebe und zwei HNO-Ärzte sind in der Stadt aktiv. Nach Filialisten, die sonst in den Innenstädten so oft vertreten sind, sucht man hier aber vergebens. Stattdessen findet man aber, neben anderen, den Betrieb von Sabine Wiewicke. Wie so viele liegt er in Bahnhofsnähe. Was anderorts bei Hörakustikern als Vorteil gesehen werden würde, erweist sich hier höchstens als eine Möglichkeit. „Die Infrastruktur ist in der Region eine andere. Hier gibt es vielleicht einmal am Vormittag und am Nachmittag einen Bus. Rufbusse und Ruftaxis sind eher verbreitet. Daran können sich aber viele Ältere nur schlecht gewöhnen. Manche machen es, manche nicht.“, beschreibt Sabine Wiewicke die ÖPNV-Situation.

Die Laune verderben lässt sich die junge Inhaberin deswegen nicht. Kunden, die davon abhängig seien, würden das mit anderen Erledigungen verbinden oder das traditionsreiche Café nutzen, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet und seit über 100 Jahren in Betrieb ist. Für sie selbst bedeute dies umgekehrt, dass man sich noch mehr auf die individuelle Situation des Kunden einstellen müsse. Ist einer nicht mehr mobil, müsse man eben ausrücken. „Man hat ja die Kunden lange begleitet und kann diese doch nicht mit ihren Hörproblemen alleine lassen, wenn die Mobilität nachlässt. Das ist hier zwar mit großem Zeitaufwand und langen Fahrten verbunden. 40 Kilometer sind keine Seltenheit. Doch was soll man da machen? Die Leute alleine lassen?“, hinterfragt Sabine Wiewicke.

Wer das Geschäft von Sabine Wiewicke betritt und eine moderne Ladeneinrichtung für 100.000€Euro erwartet, ist ebenso fehl am Platz. Vieles auf den 75m2 Geschäftsfläche dient einem reinen Funktionalitätsprinzip: ein kleiner Service- und Wartebereich, eine Reparaturwerkstatt, ein kleines Labor mit 3D-Scanner sowie ein kleiner Anpassraum. Perfekte Bedingungen seien das zwar nicht, räumt Wiewicke ein; allerdings habe sich das aus historischen Gründen so ergeben. „Vor der Wende war es üblich, dass Hörgeräte von HNO-Ärzten abgegeben wurden. Diese Abgabepraxis wurde hier noch lange fortgeführt, auch weil es ja keine Akustiker gab. Entsprechend saß bis 2010 in diesem Haus ein alter HNO-Arzt, der das Ganze noch aus Liebhaberei betrieb. Er suchte seit geraumer Zeit eine Nachfolge und ich wollte mich selbstständig machen“, erläutert Wiewicke ein wenig die Hintergründe.

Ein erfolgreicher Quereinstieg
Dass der HNO-Arzt eine Nachfolge suchte, hatte Sabine  Wiewicke aus Zufall erfahren, als sie noch bei Audia Akustik in Sömmerda beschäftigt war. Eine Zeit, die die Hörakustikmeisterin nicht missen mag; „1999 waren mein Mann und ich noch in Bielefeld. Wir wollten aber zurück in die Region. Durch Zufall traf ich einen alten Schulkollegen wieder, der mir damals half, bei Audia unterzukommen. Das waren tolle und lehrreiche elf Jahre. Als gelernte Energieelektronikerin für Betriebstechnik verstand ich schnell, wie man Hörsysteme repariert und zusammenbaut“, erzählt Wiewicke.

Sabine Wiewicke findet nicht nur Gefallen an der neuen Tätigkeit. Sie entschließt sich, die Ausbildung zum Beruf nachzuholen. 2003 erlangt sie den Meisterbrief. Auch im Betrieb steigt Sabine Wiewicke auf. Zunächst übernimmt sie bei Audia Akustik die Qualitätskontrolle. 2008 wechselt sie in den Bereich technischer Support und Entwicklung. „All die verschiedenen Tätigkeiten bei Audia haben mir sehr viel Spaß gemacht. Ich war zum Schluss technischer Support am Telefon für Hörgeräte-Reparaturen und Software-Updates. Irgendwann kam ein Gedanke, der mich nicht mehr losließ. Wenn ich schon am Telefon Hörgeräte für Hörakustiker programmiere, warum nicht für sich selbst. Schließlich will man ja nicht stehenbleiben“, begründet Wiewicke ihren damaligen Entschluss.

2011 übernimmt die Hörakustikmeisterin dann das in die Jahre gekommene Geschäft. In vielen Bereichen musste aber eine Generalüberholung her. Einen großen Kundenstamm, auf den Wiewicke hätte zurückgreifen können, gab es auch nicht. „Alles war auf ein absolutes Minimum gefahren. Daher musste ich mich zu Beginn erst einmal bekannt machen und vieles komplett neu aufbauen. Vielleicht wäre mir viel Arbeit erspart geblieben, wenn ich mir einfach ein komplett neues Geschäft aufgebaut hätte“, blickt Sabine Wiewicke mit einem weinenden und lachenden Auge zurück.

Doch das Konzept, das sich Wiewicke im Vorfeld überlegt hatte, zahlt sich aus. Unter anderem bewirbt sie sich 2013 für einen Gründerpeis, den die Standortmarketinggesellschaft Mansfeld-Südharz vergibt, und erreicht dort bei 28 Teilnehmern die Endrunde. „Arbeitsplatz- erhaltung spielt in Sachsen-Anhalt eine große Rolle. Da schon mit der Betriebsgründung klar war, dass ich eines Tages Gesellen ausbilden möchte, riet man mir in der Handwerkskammer, mich beim Gründerpreis in diese Richtung zu bewerben. Das aber, obwohl ich damals noch niemanden hatte. Kurz nach dem Wettbewerb fand ich dann meine Gesellin“, sagt Sabine Wiewicke.
Das alles gelingt der Hörakustikmeisterin, ohne den übertriebenen Einsatz von finanziellen Mittel und ohne groß die Werbetrommel zu rühren. „Natürlich schaltet man hin und wieder mal eine Anzeige, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Viel wichtiger sind mir jedoch eine ordentliche Internetseite und vor allem die lokale Vernetzung. Denn die Leute müssen einen kennen. Vielmehr als Werbung zählt hier, was man sich gegenseitig in den Vereinen, in der Arbeit oder am Stammtisch anvertraut“, ist Wiewicke überzeugt, die gerade dabei ist, einen Facebook-Auftritt zu erarbeiten.

Dieses Vertrauen könne man jedoch nur durch Präsenz und Aufklärung erzeugen. Aus ihrer Sicht seien daher regelmäßig stattfindende Informationsveranstaltungen wesentlich effektiver. „Die meisten Kunden haben doch überhaupt gar keine Vorstellung darüber, was moderne Hörsysteme heute können. Die ist aber notwendig, wenn man will, dass sich die Leute mit dem Problem auseinandersetzen. Darüber hinaus brauchen Kunden eine Möglichkeit des Erfahrungsaustausches. Aus diesem Grund machen wir, so oft es nur geht, ein Hörcafé in der gegenüberliegenden Konditorei“, berichtet die Hörakustikmeisterin.

Weiterbildung ist das A und O
Anständige Aufklärung zu betreiben, ginge allerdings nur, wenn man selbst bereit sei, etwas dafür zu tun. Deshalb macht Sabine Wiewicke seit Geschäftseröffnung das, was sie ebenso in Audia-Zeiten tat: Sie legt großen Wert auf regelmäßige Weiterbildung. Den Beginn macht sie mit der Ausbildung zur Pädakustikerin. „Viele verstehen die Pädakustik nicht, weil sie es als Zubrot ansehen. Doch gerade bei Kindern benötigt man viel Herz und Verstand. Denn sie haben andere Bedürfnisse“, so Sabine Wiewicke.

Darüber hinaus ist die Hörakustikmeistern aber auch in anderen Feldern sehr aktiv, wie etwa im Bereich des Kommunikationstrainings. Zudem bildete sie sich zur Tinnitus- sowie zur Dekra-Demenzexpertin weiter und suchte einen Einstieg in den CI-Bereich. Dies aus einer einfachen Motivation heraus. Trotz der ländlichen Prägung könne man beobachten, dass die Zahl der CI-Träger auch im Landkreis Mansfeld-Südharz steige. Nur Dienstleister hierfür gebe es keine. „Irgendwann kommt der Punkt, an dem kein Hörsystem mehr hilft. Diese Fälle schicke ich dann in die nächstgelegenen CI-Kliniken nach Erfurt, Halle oder Leipzig. Für die Reha gibt es zwar noch Halberstadt; die Klinik ist mit 70km jedoch genauso weit entfernt. Um mal ein Kabel auszutauschen, ist das alles viel zu weit. Wer aber kann das hier schon machen? Die Ärzte geben so etwas gerne sofort ab, weil sie sonst ihre Arbeit nicht mehr schaffen“, sagt Wiewicke, die bereits Med-El-Servicepartnerin ist.

Aus diesem Grund möchte Sabine Wiewicke ihre Tätigkeit im CI-Bereich weiter intensivieren. Für den CI-Lehrgang in Lübeck hat sie sich bereits angemeldet. „Das Fernziel sollte darin bestehen, irgendwann die zweite Lehrgangsstufe zu besuchen, damit man programmieren darf. Hierfür ist jedoch im Vorfeld eine Hospitation an einer Klinik notwendig. Es wäre schön, wenn sich hier eine Möglichkeit ergeben würde“, hofft Wiewicke.

Eine gute Versorgung ist nicht von der Region abhängig
Für dieses breit gefächerte Spektrum an Dienstleistungen musste die junge Inhaberin selbstverständlich auch die entsprechenden betrieblichen Strukturen schaffen. 2015 steigt ihr Ehemann Lars mit in den Betrieb ein, der mittlerweile ebenso Hörakustikmeister ist. Verstärkt werden die Wiewickes zudem durch Anika Kummer, Medizinisch-technische Assistentin der Funktionsdiagnostik. „Die Selbstständigkeit hat mir die Möglichkeit gegeben, mir ein Team aufzubauen, auf das ich mich zu 100 Prozent verlassen kann und in dem gegenseitiges Vertrauen herrscht. Das i-Tüpfelchen für mich ist dann, wenn Freundschaft hinzukommt; und die haben wir hier im Betrieb“, sagt Sabine Wiewicke.

Schlussendlich hat der Besuch in Sangerhausen daher wieder eines offenbart. Die persönliche Bindung zum Kunden ist und bleibt ein ausschlaggebender Faktor in der Hörgeräteversorgung. Es ist die Vorgehensweise, die sich von Region zu Region unterscheidet und variiert. Doch auch wenn an Orten wie Sangerhausen die Premiumkunden nicht vom Himmel fallen, eines beweist das Beispiel von Hörgeräte Sabine Wiewicke gewiss: Technisches und medizinisches Fachwissen sowie eine fachgerechte sowie kompetente Beratung mit viel Engagement erhält man nicht nur in wohlhabenden und lukrativen Regionen. Diese Kunden müssen jedoch einen größeren Aufwand betreiben, um eine gute Hörversorgung zu erhalten. Längere Wege sowie Anfahrtszeiten in die Fachgeschäfte und geringere finanzielle Möglichkeiten der Kunden sind die vorwiegenden Gründe hierfür.

Da mit den gewachsenen Aufgaben auch der Platz im kleinen Geschäft immer knapper wurde, überlegt man bei Hörgeräte Wiewicke derzeit, wie die vorhandenen Räumlichkeiten besser ausgenutzt werden können. „Zum Glück konnten wir ein weiteres Zimmer im Haus anmieten, so dass Lager und Büro nun nach oben verschwinden können. Das gibt uns endlich den Platz für einen weiteren Anpass- und Beratungsraum, den wir so dringend benötigen. Vielleicht reicht es ja auch, um die Reparaturecke und die Otoplastikwerkstatt ein wenig zu erweitern“, sagt Sabine Wiewicke zum Schluss. Soweit es geht, repariert sie alle defekten Geräte nämlich weiterhin selbst.

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