Buch-Autor Thomas Sünder im Interview: "Das Ohr ist das Interface der Zukunft"

In dem Buch „Ganz Ohr: alles über unser Gehör und wie es uns geistig fit hält“ beschreiben Thomas Sünder und Dr. Andreas Borta auf informative, unterhaltsame und allgemein verständliche Art und Weise nicht nur den Hörsinn und dessen Wichtigkeit.

Veröffentlicht am 13 August 2019

Buch-Autor Thomas Sünder im Interview: „Das Ohr ist das Interface der Zukunft“

Thomas Sünder verarbeitet in dem Werk auch sein ganz persönliches Schicksal. Herausgekommen ist ein Buch, das man jedem Kunden zur Aufklärung vor der Versorgung zum Lesen in die Hand drücken könnte. Wir trafen Thomas Sünder zum Gespräch.

Herr Sünder, in Ihrem Buch erzählen Sie, dass Sie mit Ende 30 einen Hörsturz hatten. Dennoch arbeiteten Sie erst mal weiter als DJ. Hatten Sie keine Zweifel, ob das wirklich eine gute Idee war?
Ich hatte große Zweifel und wollte eigentlich aufhören. Andererseits befand ich mich zu der Zeit auf dem Höhepunkt meines Erfolges. Ich hatte gerade mein erstes Buch veröffentlicht, „Wer Ja sagt, darf auch Tante Inge ausladen“, und war als DJ über Monate hinweg ausgebucht. Zudem hoffte ich, dass sich das mit dem Hörsturz wieder erledigen würde. Damals hatte ich ja bei weitem nicht das Fachwissen, das ich heute habe. Ich hatte einfach nicht glauben wollen, dass das nun so bleibt. Daher konnte ich das auch erst nach zwei Jahren wirklich akzeptieren – und besorgte mir dann mein erstes Hörgerät.

Sie haben sich nur monaural versorgen lassen, warum?
Mein rechtes Ohr ist so gut, dafür hätte mir kein Arzt eine Verordnung ausgestellt. Und weil ich als DJ nicht das Vertrauen meiner Kunden verlieren wollte, wenn ich mich mit ihnen zum Vorgespräch traf, wählte ich ein Im-Ohr-Gerät, das zu dem Zeitpunkt kleinste IdO am Markt. Das hat wirklich niemand bemerkt. Privat ist mir das hingegen vollkommen egal, Hörgeräte zu tragen ist für mich, wie eine Brille zu tragen. So habe ich mich zuletzt auch bewusst für ein Paar HdO-Geräte entschieden, einfach, weil ich diese ganze Bluetooth-Sache komplett nutzen möchte.

Sie bezeichnen sich als Technik-Freak …
Eben. Zudem hatte ich für mich – durch die Recherche für das neue Buch wusste ich ja schon viel über das Hören – die Theorie aufgestellt, dass ich mit zwei Hörgeräten, die miteinander kommunizieren, einen besseren Gesamteindruck bekommen müsste. Das hat sich dann voll und ganz bestätigt. Ich habe nun eine viel bessere räumliche Ortung, kann Sprache noch besser verstehen und bekomme auch all die Klanginformationen, die mir zuvor entgangen waren – obwohl mein eines Ohr ja offiziell noch als gut gilt …

Noch mal zurück zu Ihrer ersten Versorgung mit dem IdO. Wie haben Sie die erlebt?
Der Hörakustiker, bei dem ich war, hat zunächst den besten Hörtest mit mir gemacht, den ich bis dahin bekommen hatte. Und er hat mich so beraten und mir die Dinge so erklärt, dass ich das Thema überhaupt erst richtig verstanden habe. Die Versorgung lief dann relativ schnell ab, weil mein Gehirn durch mein eines ‚intaktes’ Ohr das alles wohl schnell adaptieren konnte.

Und dann kam es, wie Sie in Ihrem Buch schildern, zu jenem einschneidenden Erlebnis: Sie hatten einen DJ-Gig auf einer Unternehmensfeier und bekamen eine Schwindel-Attacke. Die Diagnose lautete Morbus Menière.
Zunächst war es bei mir nicht eindeutig. Es hätte auch etwas anderes sein können. Deswegen machte man bei mir noch eine andere Diagnostik, bei der mir, wie ich meinem Buch beschreibe, auch ein Kontrastmittel ins Ohr gespritzt wurde. Dieses Gefühl, dass jemand einem als Musiker ins Ohr sticht, das war furchtbar. Außerdem hatte ich während der Untersuchung gefragt, ob ich eigentlich noch Autofahren dürfte. Als Selbstständiger war ich ja darauf angewiesen. Doch es hieß, dass ich ab der Schwindelattacke zwei Jahre lang kein Auto fahren dürfte. Als Patient wurde ich in dieser Situation jedenfalls sehr schlecht aufgefangen, was ich dann auch in dem Buch verarbeitet habe. So hoffe ich auch, dass das Buch viele Leser ermuntert, beharrlich zu sein und darauf zu bestehen, gründlich informiert zu werden und sich auch eine zweite Meinung einzuholen. Man wollte mich ja sogar sofort operieren …

… was Sie aber abgelehnt haben.
Weil damit das Risiko noch weiter gestiegen wäre, dass mein Gleichgewichts- und Hörsinn weiter beschädigt werden. 30% Restgehör sind einfach sehr kostbar. Einseitig zu ertauben wäre für die räumliche Ortung eine Katastrophe.

Als Ihnen klar wurde, dass Ihr Leben nicht mehr dasselbe sein würde – Sie mussten den DJ-Beruf an den Nagel hängen – was haben Sie da gedacht?

Ich begann, mich sehr für das Gehör zu interessieren und fing an, viel darüber zu lesen. Und dann erinnerte ich mich daran, dass ich mit Hörakustikern gute Erfahrungen gemacht hatte. Den Beruf konnte ich mir dann auch für mich vorstellen. Zumal ich da mein Wissen als Musikproduzent und meine Erfahrungen gut hätte integrieren können. Und dadurch, dass ich selbst betroffen bin, kann ich auch sehr gut auf Menschen reagieren, die ebenfalls betroffen sind. Also las ich mich weiter in die Materie und absolvierte zwei Praktika. Durch das zweite Praktikum bekam ich auch eine Lehrstelle in Aussicht gestellt, doch dann kam wieder ein Dämpfer. Die Rentenversicherung wollte die Umschulung nicht bezahlen. Das war richtig furchtbar. Mein großes Glück war zu der Zeit, dass ich einen Ansprechpartner hatte, der jederzeit für mich da war und der es gut mit mir meinte: der Arzt und Psychologe Andreas Borta.

Der auch der Co-Autor Ihres Buches ist …
… genau. Als Geisteswissenschaftler weiß ich zwar, wie man mit wissenschaftlichen Arbeiten umgeht, aber ich bin kein Mediziner. Ihn konnte ich, wenn ich wissenschaftliche Arbeiten las und etwas nicht verstand, fragen. Er hat mir sozusagen all das Fachchinesisch ins Deutsche übersetzt. So kam ich darauf, dass hier etwas fehlte: Eine Übersetzung von diesem wahnsinnig großen Wissensfeld. Davon brauchte es eine Übersetzung, die jede und jeder versteht. Das ist doch auch ein Knackpunkt, warum viele ihre Versorgung wieder abbrechen oder gar nicht erst zum Akustiker gehen: Weil sie die Dringlichkeit der Lage nicht begreifen. Und als ich auf wissenschaftlichen Kongressen, zu denen mich Andreas Borta mitnahm, feststellte, dass es auch einen Zusammenhang von Schwerhörigkeit und Demenz gibt und dass das Thema in der Forschung längst etabliert ist, fragte ich mich: warum redet da keiner drüber? Das Thema müsste doch längst in sämtlichen Talk Shows besprochen worden sein. Jedenfalls weckte das in mir einen missionarischen Eifer, der mich schließlich zu dem Buch verleitete.

Wie lange haben Andreas Borta und Sie an dem Buch gearbeitet?
Zwei Jahre. Ich bin richtig in das Thema eingestiegen und machte während dieser Zeit nichts anderes. Dadurch, dass ich durch meine beiden vorherigen Bücher die Verlagsbranche etwas kannte, konnte ich einen großen Verlag von der Relevanz des Themas überzeugen. Auch einen Vorschuss haben die mir gezahlt, der war dann sozusagen mein Forschungsgeld.

Nach all dem, was Sie sich erarbeitet und recherchiert haben: Würden Sie sagen, die Hörbranche kommuniziert zu wenig? Oder schafft sie es einfach nicht, für ihre Themen die Türen aufzustoßen?
Auf den Websites der Hörakustiker findet man vieles zu den Themen. Aber ich glaube, die Akustiker haben das Problem, dass man ihnen nicht glaubt, weil die Leute denken, dass die einem nur etwas verkaufen wollen. Wenn hingegen jemand wie ich kommt und etwas erklärt, dann glaubt man mir eher. Ich bin unabhängig. Alles, was wir in dem Buch sagen, ist faktenbasiert. Generell denke ich aber, dass die Branche ihre Kommunikation noch verbessern könnte. Es geht ja auch viel um Psychologie, wie man jemanden in einer Situation auffängt und dass man diese Person versteht. Manche können das, andere nicht. Zumal es sicher jedes Beratungsgespräch sprengen würde, erklärte man alle Zusammenhänge. Darum ist unser Buch eine einmalige Chance. Als Akustiker könnte man sagen: Lies dieses Buch, dann verstehst du die Zusammenhänge und wir können besser zusammenarbeiten. Die größte Herausforderung für die Branche ist wohl, zu vermitteln, wie hoch die Relevanz ist und dass die Kunden Geduld brauchen, um die Eingewöhnungszeit des Gehirns zu überstehen. Keine falschen Erwartungen zu wecken aber trotzdem Hoffnungen zu machen.

In Ihrem Buch erwähnen Sie den Hörsystem-Hersteller Oticon und deren BrainHearing-Strategie. Wie sind Sie auf dieses Thema aufmerksam geworden?
Ich stieß während der Recherche darauf. Da wir in dem Buch den Fokus auf den Zusammenhang von Hören und Hirnfunktion gelegt haben und zudem die wenigsten Menschen wissen, dass wir viel mehr mit dem Gehirn hören als mit den Ohren, weckte BrainHearing mein Interesse. Die Strategie, die Umgebung permanent in 360 Grad zu scannen, anstatt bei Störgeräuschen frontal auf einen Sprecher zu fokussieren, macht Sinn. Die räumliche Ortung von Klängen war evolutionär der treibende Faktor für die Entstehung unseres Gehörs. Für mich persönlich hat sich das bewährt.

Sie hatten eingangs erwähnt, dass Sie sich inzwischen auch deshalb mit HdOs haben versorgen lassen, weil Sie die Konnektivitätsmöglichkeiten nutzen wollten. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ich streame ohne Ende – und es ist unglaublich, wie energieeffizient die Geräte arbeiten. Der Nutzen der Konnektivität entsteht für mich aber auch erst durch die Binauralität. Als ich nur ein Hörgerät trug, sagte ich mir noch: Warum soll ich darauf etwas streamen? Das hört sich auf dem Ohr doch sowieso schlimm an. Heute höre ich so z. B. Podcasts im Fitnessstudio, fahre mit dem Rad und streame mir die Navigation auf die Geräte, mir entgehen keine Telefonate mehr – das hat mich noch mal davon überzeugt. Der Gedanke, dass Apple und Samsung auch bald so etwas wie Hörgeräte auf den Markt bringen werden, ist mir dadurch vollkommen klar. Das Ohr ist das Interface der Zukunft. Ich hoffe, die Hörgeräte-Industrie springt noch mehr auf dieses Thema.

Welche Wünsche haben Sie außerdem an die Hersteller?
Man könnte die Akzeptanz sicherlich auch über Design und Haptik der Geräte steigern. Die meisten Hörgeräte fühlen sich für mich an wie ein Stück Plastik, und nicht wie High-Tech-Geräte, die 2.000 bis 5.000 Euro kosten. Da kann man viel von Apple lernen. Was ich außerdem gerne hätte wäre die Möglichkeit, eine offene Versorgung wahlweise schließen zu können, um die Hörgeräte auch wie Kopfhörer einsetzen zu können. Außerdem würde ich mich freuen, wenn wir weniger Müll durch Batterieverbrauch produzieren.

Themenwechsel: Sie bieten auch Akustikern an, bei ihnen Lesungen abzuhalten. Was erleben Sie bei diesen Lesungen?
Ich bekomme da viel Resonanz, nach dem Motto: das hat uns ja nie jemand gesagt. Wo ich mir denke: Doch, hat man, aber nicht in diesem Kontext. Und wenn ich mit meinem Vortrag, der etwa eine dreiviertel Stunde geht, fertig bin, versteht jeder, warum ausbleibende Höreindrücke für das Gehirn ganz schlecht sind und was man dagegen tun kann. Außerdem erzählen mir Menschen ihre Fallbeispiele und fragen mich, was ich dazu sage. Da sage ich dann immer, dass ich kein Arzt bin, aber dass es aus meiner Erfahrung heraus so und so sein könnte. Zudem merke ich, wie den Leuten die Ohren aufgehen, und zwar genau in dem Moment, wo ich auf den Zusammenhang zwischen Hören und Hirnleistung komme.

Sie haben nun ein Buch veröffentlicht. Was werden Sie darüber hinaus mit Ihrer Expertise anstellen? Sie hatten ja mal den Wunsch, Hörakustiker zu werden.
Ich hoffe, dass sich für mich nun neue Perspektiven entwickeln. Ein Hörakustiker, bei dem ich eine Lesung abhielt, sagte über mich: „Thomas Sünder ist der Botschafter der Hörakustik“. Ich vermittele zwischen denen, die Produkte verkaufen, und denen, die sie kaufen sollen.

Herr Sünder, wir danken Ihnen für das Gespräch.

„Ganz Ohr: alles über unser Gehör und wie es uns geistig fit hält“, 384 Seiten, ist im Goldmann Verlag erschienen.