Achin Bhowmik: "Livio AI ist nur ein erster Schritt" (Teil 2)
Achin Bhowmik, Chief Technology Officer and Executive Vice President of Engineering bei Starkey Hearing Technologies, ist weltweit einer der am meisten anerkannten Experten im Bereich des Perceptual Computing.
Er sammelte im Silicon Valley umfangreiche Erfahrung über Themen wie Computer Vision und künstliche Intelligenz, autonome Roboter und Drohnen und immersive Virtual oder Merged Reality-Geräte. Lesen Sie hier den zweiten Teil unseres Interviews, das wir am Rande des Livio AI-Launch-Events führten.
Herr Bhowmik, was macht Livio AI für Sie so einzigartig?
Ich würde sagen, dass Livio AI in dreierlei Hinsicht einzigartig ist: Wegen der Sensortechnologie, des Computings und seiner Konnektivitätsmöglichkeiten. Ohne diese Eigenschaften werden sie nicht mehrere Funktionen in ein Gerät integrieren können.
Was meinen Sie damit?
Denken Sie beispielsweise an Ihr Mobiltelefon jetzt und vor 15 Jahren. Vor 15 Jahren war es ein „Single-Function-Device“. Ein Gerät also mit nur einer Funktion: Sie konnten telefonieren. Das war’s. Heute stellt das Smartphone ein Gerät dar, das mehrere Funktionen in einem beinhaltet. Es kann Fotoaufnahmen machen, es besitzt einen GPS-Sensor für die Navigation, es kann Ihre Schritte zählen, erlaubt Ihnen im Internet zu surfen und vieles mehr. Moderne Smartphones arbeiten heute mit über 20 Sensoren und fortschrittlichen Algorithmen, künstliche Intelligenz eingeschlossen. Vor 15 Jahren beinhaltete das Gerät nur einen Sensor. Und das war das Mikrofon. Das war auch der Grund, weshalb man mit diesem ausschließlich telefonieren konnte. Heute können wir dank den drei Dingen Sensoren, Computing und Konnektivität wesentlich mehr erreichen. Als multifunktionales Gerät ist das Telefon von einem nützlichen Gerät zu einem Gerät geworden, auf das wir nicht verzichten können.
Und das gilt auch für Hörsysteme?
Das gilt auch für Hörsysteme, ja. Als ich mich 2017 das erste Mal mit Hörsystemen beschäftigte, waren das ausschließlich noch „Single-Function-Devices“. Sie dienten ausschließlich dazu, Sprache zu verstärken und waren vergleichbar mit einem Mobiltelefon vor 15 Jahren.
Bezieht sich die Aussage auf alle Hörsysteme der gesamten Branche?
Ja, das gilt wirklich für alle Hörsysteme aller Hersteller.
Ich vermute, weil sich Hörsysteme lediglich der Technologie von Smartphones bedienen können?
Sie stützen sich auf viele Technologien, die für die Smartphones entwickelt wurden, wie beispielsweise mikroelektromechanische Wandler. Innerhalb eines Hörsystems konnten sie aber keine weitere Sensorik finden, was die Möglichkeiten des Hörsystems auf die Schallverstärkung beschränkte. Das haben wir nun mit Livio AI durch den Einsatz weiterer Sensorik und künstlicher Intelligenz Algorithmen verändert. Zum ersten Mal überhaupt kann ein Hörsystem nun natürlich und präzise Ihre körperliche Aktivität und Ihr soziales Engagement verfolgen. Kein anderer Hörgerätehersteller kann das von sich sagen.
Sie sagen, dass sich mit Livio AI die Aktivität eines Menschen noch genauer messen lässt. Genügt für so etwas nicht auch ein Smartphone?
Es gibt einen Begriff, der sich „step regret“ nennt. Was bedeutet das? Nehmen wir an jemand möchte beispielsweise seine Fitness tracken und dafür die Schritte zählen, die er gemacht hat. Wenn das Smartphone sich nicht in der Tasche befindet, sondern auf dem Tisch, und sie laufen während einer Telefonkonferenz mit dem Bluetooth-System im Haus herum, dann können die 2000 Schritte, die sie in dieser Zeit absolviert haben, nicht gemessen werden. Ist ja klar, denn das Smartphone liegt auf dem Schreibtisch. Mit Livio AI geht das aber, weil der Sensor sich im Hörsystem befindet. Es misst also ihre Aktivität konstant. Sie lassen also keinen Schritt aus. Am Handgelenk getragene Geräte hingegen neigen dazu, körperliche Aktivitäten zu überschätzen, da gelegentlich Fehlalarme auftreten, die von den Sensoren gemessen werden, wenn wir unsere Arme beim Sitzen und Sprechen bewegen. In vielerlei Hinsicht ist das Ohr also ein viel besserer Ort, um Sensoren zu platzieren.
Warum haben Sie sich für einen Bewegungs- und Beschleunigungssensor entschieden?
Aus drei Gründen. Der eine ist wie gesagt der, dass ich eine Aktivität konstant messen kann, ohne ein Smartphone zwingend dabei haben zu müssen. Das Hörsystem misst daher nicht nur, wie lange ein Gerät im Einsatz war, sondern zugleich die Schritte. Man kann also genau messen, wie viele Schritte in einer bestimmten Zeit gemacht worden sind. Darüber hinaus erlaubt uns der gleiche Sensor, Livio AI mit einem automatischen Detektor auszustatten, der feststellen kann, ob der Hörsystemträger gefallen ist. Im Falle eines Sturzes wird eine automatische Meldung an vorgewählte Kontakte gesendet, damit dem Träger geholfen werden kann. Und nicht zuletzt ermöglicht der Sensor eine natürliche Benutzersteuerung der Hörsysteme. Livio AI beinhaltet einen persönlichen virtuellen Assistenten, den wir „Thrive Assistant“ nennen. Der Benutzer kann den Assistenten aktivieren, indem er sanft auf das Ohr tippt und eine Frage stellt, auf die er dann eine Antwort erhält. Wenn ich also danach frage, wann Beethoven geboren worden ist, so würde ich das Geburtsjahr erhalten. Dieses leichte Tippen zu verstehen, stellt ebenso die Leistung des einen und gleichen Sensors dar. Dabei ist der Sensor gleichzeitig fähig, die verschiedenen Algorithmen zu identifizieren und zu verstehen.
Wie viele Sensoren können künftig in einem Hörsystem untergebracht werden?
Die Möglichkeiten sind in der Theorie unendlich. Wir arbeiten aktuell an ein paar sehr aufregenden Projekten.
Warum ist Sensorik bzw. ein Multi-Function-Device für Hörsystemträger so wichtig?
Das ist ein guter Punkt, den Sie da anschneiden. Der Grundgedanke bestand darin, dass es doch von Vorteil wäre, wenn ein Hörsystem nicht nur hilft, besser zu hören. Viel besser wäre es doch, wenn man mit diesen noch weitere „Health Benefits“ erhält. Denn letztlich soll das Gerät helfen, das eigene Wohlbefinden zu verbessern. Ein HNO-Arzt wird die Dinge nur aus audiologischer Perspektive betrachten. Er wird sich fragen, ob das Gerät regelmäßig getragen worden ist, und nicht, ob der Patient aktiv oder träge ist.
Was hat Trägheit mit Hören zu tun?
Wer den ganzen Tag sitzt, der wird wahrscheinlich häufiger krank werden. Aktivität ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich kann Ihnen Daten zeigen, die nachweisen, worin der Benefit liegt, wenn man aktiv ist, sich regelmäßig bewegt. Die Vorteile sind unglaublich und der Unterschied enorm. Beispielsweise fällt die Wahrscheinlichkeit eines Hirnschlags um 40 Prozent geringer aus, sofern man täglich 30 Minuten geht. Ebenso fällt die Wahrscheinlichkeit, dass man an Krebs erkrankt, um 60 bis 66 Prozent geringer aus. Wussten Sie das?
Nein.
Wir glauben daher, dass dieser Ansatz sehr erfolgsversprechend ist. Denn unabhängig davon, dass diese Geräte insbesondere dazu da sind, Menschen zu besserem hören zu verhelfen, ist das zweitwichtigste doch, dass Menschen die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre Aktivitäten und ihre Fitnessdaten zu tracken. Gerade für Menschen, die älter werden, ergeben sich dadurch extrem viele Vorteile. Ein weiteres, sehr wichtiges Element ist, dass wir die kognitive Aktivität verfolgen können. Künstliche Intelligenz, auf der Grundlage von maschinellem Lernen, ist ein hilfreiches Mittel, um soziale Aktivität zu quantifizieren. Wer körperlich aktiv ist, jedoch nicht geistig, tut seinem Körper nämlich ebenso nichts Gutes. Denn auch das kann krank machen.
Warum das?
Viele Studien zeigen, dass Menschen, die sich sozialer Aktivität entziehen und sich vorwiegend alleine beschäftigen, eher an einem Rückgang der kognitiven Fähigkeiten leiden. Das Risiko einer dementiellen Erkrankung steigt. Leider kann der Verlust des Hörvermögens zu sozialer Isolation und Rückzug führen. Die Verfolgung des kognitiven Aktivitätsniveaus durch das tracken sozialer Aktivitäten mit maschinellem Lernen kann dem Hörsystemträger also enorm helfen.
Livio AI bietet nicht zuletzt eine Übersetzungsfunktion. Wird diese Funktion über das Smartphone ausgeübt?
Ja, für die Übersetzung selbst muss die Leistung des Smartphones in Anspruch genommen werden. Solche Funktionen benötigen sehr viel Rechenleistung, die derzeit nur von den leistungsfähigen Servercomputern in den Rechenzentren bereitgestellt werden kann. Die mit dem Smartphone verbundenen Livio AI Hörsysteme bieten eine nahezu Echtzeit-Übersetzung in 27 Sprachen. Das ist ein weiterer wichtiger Punkt. Es reizt Menschen, kognitiv tätig zu werden und die Sprache wird zudem direkt ins Hörsystem übersetzt. Darüber hinaus verfügt das Livio AI über eine Sprache-zu-Text Funktion. Mit dieser Funktion kann ich Ihnen mittels Sprache etwas schreiben oder etwas auf Facebook posten, weil das Hörsystem die gesprochenen Anweisungen aufnehmen und zu Text verarbeiten kann. In einer anspruchsvollen Hörumgebung kann diese Funktion quasi als „Untertitel“ des Gesprochenen dienen.
Worin liegt die Zukunft des Hörsystems?
Wir haben erst den ersten Schritt in diese neue Richtung gemacht. Unser Ziel ist es, das Hörsystem zu ihrem persönlichen Assistenten zu machen, der Ihnen hilft, Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden zu verbessern und Ihnen das Tor zur Welt der Informationen zu öffnen. Und das werden wir tun. Wenn es einen Platz beim Menschen gibt, um ein solches Device anzubringen, dann ist es das Ohr. Keine andere Stelle ist so geeignet. Wir haben fast einen unmittelbaren Zugang zum Gehirn, um zahlreiche Körperfunktionen und mentale Aktivitäten für einen individuellen Nutzen des Trägers zu messen. Wir sind eine mutige Reise angetreten, um das Hörsystem in ein Gerät zu verwandeln, das die Menschen nicht nur brauchen, sondern auch tragen wollen!
Herr Bhowmik, wir danken Ihnen für das Gespräch!