IdO-Hörsysteme: Von der Nische zum Megatrend

Oftmals wird von immer kürzeren Innovationszyklen gesprochen. Auch in der Hörakustik haben Plattformentwicklungen fast schon Fast Fashion-Charakter. Upgradefähige Plattformen zeigen, dass es auch smarter geht anstatt immer wieder neue Chips auszurollen. Aktuell beobachten wir eine spannende Entwicklung in den USA, die sich zwar lange hinzog und damit absehbar war, nun aber doch innerhalb weniger Monate in trockenen Tüchern ist: Die FDA-Regularien für OTCs. Ob verpflichtende Hörtests dieser Entwicklung noch einen Stich durch die Rechnung machen könnten, steht auf einem anderen Blatt. Aber: Es gibt einen, mehr oder weniger plötzlichen Auslöser und schon beginnt eine eigene Dynamik. Bei Im-Ohr-Hörsystemen kommen zwei wesentliche solcher Auslöser zusammen. Doch bevor es hier losging, machten stattdessen seit mehr als einem Jahrzehnt RIC-Modelle das Rennen.

Das ideale Duo bremst Entwicklung – vorerst

Womit wir schon beim ersten Auslöser sind. Denn RIC vor knapp 15 Jahren war das neue Diskret. Zuerst hielten vor fast 10 Jahren Anbindungen mit der 2,4 GHz Bluetooth® Low Energy-Technologie Einzug – ganz vorn dabei waren Resound und Starkey. Bluetooth Classic füllte die Zwangslücke für Android, dann folgte schließlich ASHA. Drei Jahre später präsentierte Signia die ersten Li-Ionen Akku-Hörsysteme. Ein ideales Duo: Ausreichend Saft fürs Streaming. Das alles passte gut ins RIC-System, bot mehr und wurde daher viel und gern verkauft. Auch zum Leidwesen der IdOs. In die beliebte CIC-Variante passten weder Akku noch ließ sich eine Bluetooth-Antenne gut positionieren. Neue Chips und Plattformen wurden zuerst für RIC-Hörsysteme auf den Markt gebracht. Auch heute noch kann man Verzögerungen von bis zu einem Jahr (und mehr) beobachten, ehe auf den Markt gebrachte Neuentwicklungen bei IdO-Modellen eingesetzt werden. Die Priorisierung in der Entwicklung liegt nunmal auf den RIC-Modellen – im Brot- und Buttergeschäft. Noch!

Angebotsinduzierte Nachfrage

Dann kam die Pandemie und damit die Masken – der zweite Auslöser. Das Absetzen eben dieser machten und machen es Hörsystemträgern schwer, insbesondere, wenn dann auch noch Brillenbügel dazu kommen. Auf Nachfrageseite, also seitens der Kunden, entstand Unsicherheit. Die Lösung: IdOs. Die Fachbetriebe erkannten das nativ, und so entstand zusätzlich eine angebotsinduzierte Nachfrage: Im-Ohr-Modelle wurden als Problemlösung vermehrt angeboten. Nun befanden wir uns allerdings im Jahr 2020. Da waren Wireless und Akku bei IdOs kaum ein Thema – bei RIC Hörsystemen wohl aber schon. Einzig Starkey hatte mit dem Livio Edge AI eine wiederaufladbare, wireless Lösung parat. Noch waren IdOs hier also zum größten Teil non-wireless. Was sich nun kontinuierlich ändern sollte.

Umsatzsteigerung Faktor 4,5

Das GfK Handelspanel zeigt für das Jahr 2013 42.000 verkaufte Im-Ohr-Hörgeräte, was 5,1 % Stückanteil bedeutet. Im letzten Jahr wurden 184.000 Stück verkauft – 440% Wachstum, bei einem Anteil von etwas mehr als 14%. Aktuell zeigt das IdO-Segment sogar knapp 18 % in Stück an. Im Vergleich: Im selben Zeitraum, also 2013 bis 2021, ist der Markt in Stück um etwas mehr als 50 % gewachsen. Der Pandemie-Effekt in den Jahren 2020 und 2021 wird besonders deutlich. Hier sank der Gesamtumsatz leicht, IdOs legten dennoch um 50 % zu. Und: 10 % der IdOs waren wiederaufladbar, Starkey hat diesen Markt gemacht.

Verschiebung und weiteres Wachstum erwartet

Auf der EUHA waren sich Experten, Hörakustiker und Hersteller bezüglich des IdO Hypes nahezu einig: Mehr als 20% in Stück sind locker drin. Dafür sprechen einige Aspekte. Zum einen sind IdOs bei nahezu jedem Hersteller Fokusthema geworden. Und hier geht die Schere schon auseinander: Diskretion versus Funktionalität. Aber dazu kommen wir am Ende des Artikels.

Initiativen und Digitalisierung

In den kommenden Monaten starten eine Menge Initiativen – vor allem Präsenzworkshops. Nahezu alle Hersteller haben erfahrene Kompetenzteams oder bauen diese auf. In den Workshops geht es dann von der Abdrucknahme bis zum digitalen Bestellprozess. Es scheint, dass sich eine ganze Branche neu erfindet. Gebetsmühlenartig wurden IdOs als Alleinstellungsmerkmal positioniert, als eine Handwerkskunst, individuelle Produkte für Kunden mit Wunsch nach Diskretion zu fertigen. Doch es passierte lange Zeit nicht viel. Die IdO Marktanteile kamen nicht vom Fleck.

Denn genau hier lag oftmals das Problem: Ein geringer IdO-Anteil bedeutet auch, dass die Handhabung bei der Ohrabformung häufig nicht Teil der praktischen Arbeit war – wohl gemerkt: für den gesamten Markt gesehen. Bei 20 % sieht das schon anders aus, also wenn jedes fünfte Gerät ein IdO-Modell ist. Das Erfahrungsniveau steigt kontinuierlich. Ein weiterer, wesentlicher Parameter: IdO-fokussierte Hörakustiker wissen, dass Kunden, die mit IdOs versorgt sind, durchaus auch häufiger ihre Geräte weiterempfehlen – Qualität der Geräte und der Anpassung natürlich vorausgesetzt. Die kundenseitige Nachfrage steigt.

Ferner schreitet auch die Digitalisierung voran. Klassisch: Abdrücke mit IdO-Bestellformular im Umschlag beim Hersteller einschicken. Heute: Abdrücke scannen oder gleich digital aufnehmen und ab in den Online-Store des Herstellers. Je öfter die Klicks in eben diesen durchführt werden, umso leicht fällt die Bestellung.

Zu guter Letzt Letzt: Erfahrung und Austausch der Hersteller während der Bestellung und Modellierung. Ebenfalls ein Thema, dass auch das Erfahrungsniveau einzahlt und die angebotsinduzierte Nachfrage weiter steigern wird.

Und: Ob mit oder ohne Akku, die IdO-wireless Sortimente werden breiter. Primus Audio Service rollt das neue Atelier-Konzept aus, das Signia Insio AX ist seit Juni lieferbar und GN Hearing fährt mit dem Custom auf. Oticon, Hansaton, Phonak und Unitron sind ebenfalls mit neuen Bluetooth-Modellen unterwegs.

Blick nach vorn

Gute Zeit für IdOs also. Die Frage wird sein, welches Technik-Bundle sich durchsetzen wird. Diskretion und non-wireless oder ITC/ ITE dafür mit Akkus und Bluetooth. Mein Tipp: beides! Denn auch hier bot der Kongress eine spannende Aussicht. Starkey zeigte ein 312er CIC mit Bluetooth-Option. Pragmatisch, naheliegend und gemacht: Der Rückholfaden wurde zur BT-Antenne umfunktioniert. Nun muss man eigentlich nur noch warten, bis eine Ladetechnik mit der Größe einer 312er Batterie entwickelt wird. Das „OTC to be“ Eargo kann das schon. Womit sich der erwähnte Fokus in der Produktentwicklung und seinen Auslösern wieder schließt und die kommende Industrieausstellung erneut spannend werden dürfte.

Marco Schulz