„Ausbildungsberufe sind genauso wichtig und wertvoll wie ein Studium”

Audio Infos (AI): Bundesweit beste Gesellenprüfung, danach der Meister und mit Mitte 20 Filialleitung: Klingt nach einem Kickstart ins Berufsleben. War die Hörakustik immer schon Ihr Traumberuf?

Lucie Reddig (LR): Tatsächlich hatte ich nach der Schule erst ein Studium begonnen: Lebensmittelwissenschaft und Biotechnologie – also etwas ganz anderes. Aber ich habe mich mit der Anonymität unter 600 anderen Studenten, der theoretischen Berieselung und dem fehlenden Praxisbezug nicht wohlgefühlt. Als ich frustriert in einer Vorlesung saß, habe ich im Netz eine Anzeige für die Ausbildung zur Hörakustikerin entdeckt. Die habe ich mir durchgelesen und gemerkt: Das könnte sehr, sehr gut zu mir passen. Und dann ging alles recht schnell: Im Dezember fand der Probetag statt und im Februar habe ich schon mit der Ausbildung angefangen.

AI: Vom Studium zur Ausbildung – nicht der klassische Weg…

LR: In meinem Freundeskreis haben alle studiert, niemand hat eine Ausbildung in Erwägung gezogen. Ich hatte schon während der Schulzeit von einer Ausbildung geträumt und wollte Probetage machen, aber auch meine Lehrer haben mir davon abgeraten und immer nur die Vorteile eines Studiums angepriesen. Letztlich habe ich einen Ausweg aus dem Studium gesucht und in der Hörakustikausbildung gefunden. Für mich eine sehr glückliche Fügung!

AI: Was gefällt Ihnen so gut am Beruf des Hörakustikers?

LR: Die Vielseitigkeit! In einem Moment sitzt man vor dem Kunden und berät ihn, im anderen vertieft man sich in die technischen Komponenten. Am schönsten ist aber das Glück der Menschen zu sehen, weil sie jetzt in Situationen wieder zurechtkommen, die sie ohne Hörlösung niemals meistern könnten. Man betreut die Kunden im Allgemeinen ja sehr lange, erfährt viel über deren Lebensweg und baut eine enge Bindung zu seinen Stammkunden auf.

AI: Mit GEERS haben Sie sich von Anfang an für eine Kette und nicht für einen inhabergeführten Betrieb entschieden. Warum?

LR: Man muss einfach schauen, was für einen persönlich passt – jede Unternehmensform und jede Betriebsgröße hat Vorteile. Bei einem größeren Unternehmen hat man es vielleicht leichter, intern aufzusteigen, sich fortzubilden, den Standort zu wechseln. Bei kleineren Akustikern kann man vielleicht individueller arbeiten, hat nicht so ein festes Konzept, an das man sich halten muss. Am Ende ist es aber immer das Team, das am wichtigsten ist, weil wir auf so engem Raum zusammenarbeiten. Hier hatte ich großes Glück, weil die Zusammenarbeit mit meinen Kollegen von Anfang an auf Augenhöhe war.

AI: Im Ranking der beliebtesten Ausbildungsberufe liegt die Hörakustik weit hinten. Aus Sicht einer Begeisterten: Woran liegt das?

LR: Vor allem an der Unwissenheit. Wer niemanden in der Familie hat, der ein Hörgerät hat, dem kommt eine Hörakustikausbildung nicht in den Sinn. Das ist bei Optikern völlig anders – weil man in unserem Alter eben viel öfter eine Brille braucht als ein Hörgerät.

AI: Welche Hebel müssen in Bewegung gesetzt werden, um der Hörakustik zu mehr Nachwuchs zu verhelfen?

LR: Zum einen müsste die Bekanntheit der Hörakustik als Ausbildungsberuf zunehmen. Zum anderen sollte verstanden werden, dass  Ausbildungsberufe etwas wert sind. Ausbildungsberufe sind genauso wichtig, genauso wertvoll wie ein Studium! Das eine ist nicht besser als das andere, beides hat seinen Platz. Wir brauchen Fachkräfte und wir brauchen Gesellen. Wir brauchen Meister, wir brauchen Auszubildende – und nur zusammen funktioniert das Ganze. Nur so können wir möglichst viele Kunden begeistern und zu mehr Lebensqualität verhelfen.

AI: Und was muss sich in der Branche verändern?

LR: Einige Aspekte der Ausbildung könnten attraktiver gestaltet werden, dazu braucht es allerdings Anstrengungen von verschiedenen Seiten. Ein finanzieller Anreiz könnte sein, Auszubildende in Zukunft nach Tarif zu bezahlen, den es bisher jedoch nicht gibt, da für die Hörakustikbranche keine Gewerkschaft existiert. Darüber hinaus wären auch flexiblere Arbeitszeiten oder Homeoffice ein Benefit, der vor allem junge Leute anziehen könnte. Jedoch sehen die gesetzlichen Regelungen beides aktuell nicht vor. Wenn wir den Beruf des Hörakustikers modernisieren wollen, dann sind wir darauf angewiesen, dass uns die Gesetzgeber dabei unterstützen und die dafür notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen.

AI: Wie könnte die Umsetzung des Homeoffice aussehen?

LR: Die Arbeit mit Medizinprodukten macht es natürlich etwas schwieriger – ebenso wie die Tatsache, dass wir hauptsächlich mit der älteren Generation arbeiten, die technisch weniger versiert ist. Ich bin mir aber sicher, dass in der Hörakustik ganz viel Potenzial für Veränderungen steckt  – zum Beispiel in Sachen Remote-Anpassungen, was theoretisch bereits durch unsere GEERS App möglich ist, aber noch weit mehr gelebt werden müsste. In 20 Jahren werden viel mehr Hörgeräte mit dem Handy verbunden sein und für ihre Träger wird es ganz normal sein, dass man diese über einen Videoanruf remote anpasst. Das wird dem Kunden mehr Flexibilität geben – und uns auch, weil wir die Anpassungen zum Beispiel aus dem Homeoffice vornehmen können. Wir haben viele Möglichkeiten und Chancen, nur ist aktuell vieles noch schwer umsetzbar beziehungsweise ein Prozess, der von allen Seiten, also Unternehmen, Branche und Kunden vorangetrieben werden muss.

AI: Ist die Zeit dabei Ihr Freund oder Feind?

LR: Sowohl als auch! Vor fünf Jahren hatten wir noch gar nicht die technischen Möglichkeiten, etwas remote anzupassen. Seitdem ist so viel passiert – und so wird es auch weitergehen: Es wird immer neue Systeme und Weiterentwicklungen geben, und parallel dazu wird die Technikaffinität der Zielgruppe wachsen. Als Unternehmen kann man sich darauf auch vorbereiten und jetzt schon ein Gerüst an Innovationen bauen.

AI: Zurück zum Recruiting – nicht dem der großen Ketten, sondern der kleinen, regionalen Betriebe. Wie können sie aufrüsten, um für künftige Azubis attraktiver zu werden?

LR: Zunächst geht es auch hier um mehr Sichtbarkeit – und zwar zielgenau dort, wo die Zielgruppe ist. Es bringt nichts, meine Anzeigen weiterhin im Stadtanzeiger zu veröffentlichen und zu hoffen, dass die Oma, der Opa, irgend jemand von der älteren Generation den Jugendlichen die Ausschreibung ausschneidet und in die Hand drückt. Es muss dort stattfinden, wo sich die Gen Z sowieso schon befindet: ob das nun die Ausbildungsmesse, der Stand auf dem Dorffest oder Instagram und TikTok ist. Wenn die Aufmerksamkeit dann geweckt ist, geht viel über die Work-Life-Balance. Eine 36-Stunden-Woche statt der üblichen 40, ein anderes Prämiensystem, es muss nicht immer bares Geld sein. Das kann auch so weit gehen, dass man arbeitenden Eltern den Krippenplatz mitfinanziert.

AI: Apropos Social Media – könnten auch Hörakustik-Influencer helfen?

LR: Ich folge auf TikTok tatsächlich einer Hörakustikerin, die ihren Arbeitsalltag zeigt und Einblicke in ihre Selbstständigkeit und die Vielfalt der Audiologie gibt. Das ist superwichtig und trägt zur Sichtbarkeit der Berufsgruppe bei. Natürlich muss man – Stichwort: Datenschutz – aufpassen, was man zeigt. Und Unternehmen sollten sich klar darüber sein, mit welchem Ziel sie Social Media betreiben: um potenzielle Auszubildende zu erreichen oder um Kunden anzusprechen, die eine Hörlösung oder einen Gehörschutz haben möchten? Außerdem ist wichtig, authentisch zu bleiben: Ich als Meisterin wäre nicht die Richtige, um Einblicke in die Azubi-Welt zu geben. Auszubildende erreichen potenzielle Auszubildende viel direkter und glaubwürdiger. Ich hatte als Praktikantin ja auch am meisten Spaß, wenn ich mit den Azubis mitgelaufen bin, weil das am nächsten an dem dran war, was man später lernt.

AI: Was würden Sie jungen Menschen raten, die nach dem Schulabschluss ratlos vor der Zukunft stehen?

LR: Ich würde sagen: Nimm dir die Zeit. Du hast keine Eile, das Passende zu finden und probiere einfach aus, ein halbes Jahr oder ein Jahr. Verschiedene Praktika machen, in unterschiedliche Berufe hineinschnuppern und möglichst vielfältige Einblicke bekommen – und sich dann entscheiden:  Was hat mir am besten gefallen, wo habe ich mich wohlgefühlt, was kann ich mir langfristig vorstellen? Das Erste, wofür man sich entscheidet, muss nicht das Richtige sein. Man kann sich auch umentscheiden und dann etwas noch Besseres für sich finden.

Ich hatte schon während der Schulzeit von einer Ausbildung geträumt, aber auch meine Lehrer haben mir davon abgeraten und immer nur die Vorteile eines Studiums angepriesen.

Am Ende ist es aber immer das Team, das am wichtigsten ist, weil wir auf so engem Raum zusammenarbeiten.

Wenn wir den Beruf des Hörakustikers modernisieren wollen, dann sind wir darauf angewiesen, dass uns die Gesetzgeber dabei unterstützen und die dafür notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen.

Ich bin mir aber sicher, dass in der Hörakustik ganz viel Potenzial für Veränderungen steckt  – zum Beispiel in Sachen Remote-Anpassungen.

[Die Rekrutierung] muss dort stattfinden, wo sich die Gen Z sowieso schon befindet: ob das nun die Ausbildungsmesse, der Stand auf dem Dorffest oder Instagram und TikTok ist.