Über KI und den technologischen Fortschritt
Wer den EUHA-Kongress besuchte, konnte beobachten, dass der Begriff der künstlichen Intelligenz (KI) geradezu inflationär verwendet wurde. In allen Medien wird inzwischen intensiv über die KI und deren Anwendungen wie ChatGPT diskutiert und sogar der diesjährige Physik-Nobelpreis ging an zwei Pioniere der KI-Entwicklung. Die Preisträger John Hopfield und Geoffrey Hinton verwiesen jedoch auch auf die damit einhergehenden Herausforderungen.
Dass die Komplexität der KI und die damit verbundenen Details für Laien kaum noch nachvollziehbar sind, bedeutet nicht, sich nicht damit zu beschäftigen. Im Gegenteil. Natürlich kann man mit der Erläuterung der Technologien den einen oder anderen technikaffinen Kunden begeistern. Dieser eher kleineren Gruppe steht ein größeres Klientel gegenüber, das durch Begriffe wie KI im Moment möglicherweise eher verschreckt wird. Die Fähigkeit einer korrekten Einordnung der angewandten Technologien kann diese Ängste abbauen und die eigene Kompetenz in der Beratung stärken.
Es ist nachvollziehbar, dass auf den Messeständen der Fachausstellung technische Neuerungen gerne in den Mittelpunkt gestellt werden und die Besucher wurden in diesem Jahr mit teils gigantischen Zahlen konfrontiert. Doch hilft viel wirklich viel? Aus diesem Grund war die Frage in der Überschrift des Vortrags von Dr. Martin Kinkel, Burgwedel, „Wie intelligent sind intelligente Hörsysteme?“ durchaus berechtigt.
Was ist künstliche Intelligenz?
Zu Beginn seines Vortrags machte Kinkel deutlich, dass der allgemeine Begriff der „Intelligenz“ nicht eindeutig definiert ist und es zahlreiche oft philosophische Interpretationen gebe. Dies gelte auch für die künstliche Intelligenz, die in die unterschiedlichen Teilgebiete wie maschinelles Lernen oder tiefe neuronale Netzwerke (DNN) aufgeteilt werden müsse. Der Einsatz von KIs werde im Bereich der Hörgeräteindustrie bereits seit den frühen 2000er-Jahren beworben. Die Entwicklung erfolge dabei rasant. Wobei Kinkel betonte, dass sie seiner Meinung nach noch immer weit von einer menschlichen Intelligenz entfernt sei.
Kinkel verglich die verschiedenen Definitionen der Intelligenz und fragte, ob Hörsysteme dies leisten. Er antwortete mit einem Ja, jedoch mit der Einschränkung, dies nur in dem Bereich tun zu können, in dem sie trainiert wurden. Er verdeutlichte damit den Umstand, dass die Entwicklung einer allumfassenden KI-Anwendung etwas völlig anderes darstellt als zum Beispiel eine spezielle Anwendung im medizinischen Bereich. Bei aller Leistungsfähigkeit fehlten diesen Technologien weiterhin wesentliche Aspekte wie Mitgefühl, Empathie oder Intuition. Was bereits sehr gut funktioniere, seien Aufgaben bei der Hörsituationsklassifizierung und der Trennung von unterschiedlichen Schallquellen, um besonders das Hören in geräuschvollen Umgebungen zu verbessern. In seinem Fazit schloss Kinkel, dass Technologien in Hörsystemen zwar technisch enorm viel leisten, aber er war persönlich zurückhaltend, ob man diese Eigenschaften wirklich schon als intelligent in einem menschlichen Sinn bezeichnen könne. Man müsse zudem weiter hinterfragen, wie man Technologien wie tiefe neuronale Netzwerke audiologisch noch besser um- und einsetzen könne. Kinkel sah hier viel Potenzial für die Zukunft.
Technologie ist noch kein Garant für gutes Hören
Die KI ist wie erwähnt nur der Oberbegriff für eine Reihe von höchst unterschiedlichen digitalen Anwendungen, der gerne der Einfachheit halber verwendet wird. Der Vortrag von Dr. Matthias Latzel, Stäfa (Schweiz), „Störgeräuschunterdrückung mit KI: Nur Marketing oder wirklicher Nutzen für Hörgeräteträger?“, griff das Thema auf.
Es war nicht verwunderlich, dass der Redner, der bei einem Unternehmen beschäftigt ist, welches aktuell ein Hörsystem basierend auf einem gut trainierten DNN präsentierte, die Frage recht eindeutig beantwortete. Latzel hielt sich in seinem Vortrag nicht lange mit den unterschiedlichen Definitionen auf und verwies diesbezüglich auf den Vortrag von Dr. Kinkel. Im Folgenden stellte er klinische Aspekte der Entwicklung in den Fokus seiner Ausführungen.
Bei der Entwicklung des derzeit angewendeten DNN wurden unterschiedliche audiologische Studien einbezogen. Darin wurden zunächst objektive Messungen am KEMAR durchgeführt, die das DNN mit klassischen Störgeräuschunterdrückungen verglichen. Neben diesen Labormessungen war es wichtig, weitere Untersuchungen mit Probanden durchzuführen. Hier konnten ebenfalls deutliche Fortschritte festgestellt werden. Dabei untersuchte man die Verbesserungen des Störschall-Nutzschall-Verhältnisses (SNR) nicht nur im klassischen Versuchsaufbau mit Störschall von hinten oder seitlich, sondern, ob die Technologie auch dann bestehen würde, wenn Störgeräusch und Nutzschall aus der gleichen Richtung kommen. In diesem anspruchsvollen Versuchsaufbau konnten ebenso deutliche Verbesserungen beim SNR gegenüber herkömmlichen Funktionen festgestellt werden, so Latzel. Seine Ausführungen unterstrichen die These von Dr. Kinkel, dass die Entwicklungen von Technologien mit den audiologischen Anforderungen einhergehen und diesen Stand halten müssen. Weitere internationale Studien in verschiedenen Sprachen werden daher zurzeit durchgeführt, um die Leistungsfähigkeit des DNN weiter klinisch zu untermauern.
Der lange Weg des technischen Fortschritts
Für diejenigen, die sich heute für den Beruf des Hörakustikers entscheiden, sind viele technische Features wie die der KI selbstverständlich. Dabei waren die Herausforderungen des technischen Wandels in den vergangenen Jahren groß und die Branche stand oft an der Speerspitze der Entwicklung. Vieles, was aktuell als Innovation im Bereich der Consumer Electronics angeboten wird, ist in der Hörakustik schon lange Standard. Diesen Aspekt griff Dipl.-Ing. Horst Warncke, Hamburg, in seinem Vortrag „40 Jahre technischer Fortschritt – ist wirklich alles neu?“ auf.
Horst Warncke war in seinen verschiedenen Funktionen beim dänischen Hersteller Oticon lange Jahre eng mit der technischen Entwicklung von Hörsystemen verbunden und in diese involviert. Zunächst führte Warncke bekannte technologische Features tabellarisch auf, die heute in aktuellen Hörsystemen wiederzufinden sind. Dann ging er nach und nach auf die einzelnen Features ein und fragte jeweils das Publikum, seit wann es diese Technologie wohl gebe. Zur Auflösung der recht unterschiedlichen Antworten präsentierte er seine Recherchen und stellte die Anfänge dem heutigen Istzustand gegenüber.
So gab es in den frühen Taschenhörgeräten natürlich schon immer externe Hörer. Diese waren allerdings lediglich einfache (und große) Lautsprecher. Heute weisen kleinste externe Hörer eine Rechts-links-Kennung auf, sind selbstkalibrierend und übertragen den Ton in einer Frequenzbreite von 80 bis 10.000 Hz.
Als weiteres Beispiel der technischen Innovation nannte Warncke die Frequenzmodifikation. So wurde bereits 1972 ein Taschengerät präsentiert, das hohe Frequenzen aus dem Bereich von 4.000 bis 8.000 Hz in den Bereich von 20 bis 1.500 Hz transportieren konnte.
Ebenso überraschend mag es für besonders jüngere Besucher gewesen sein, dass Remote-Anpassungen schon 1996 angeboten wurden. Bei diesen Geräten konnten Hörprogramme und verschiedene Features bereits über das Telefon aus der Ferne aktiviert werden.
Wie fundamental sich Features weiterentwickelt haben, konnte man gut am Beispiel der Rückkopplungsunterdrückung sehen. Erste Systeme Ende der 70er-Jahre reduzierten lediglich die kritische Verstärkung in den hohen Frequenzen, was für die Sprachverständlichkeit nicht immer optimal war. Heute werden Rückkopplungen automatisch erkannt und für die Nutzer unhörbar über unterschiedliche Verfahren ausgelöscht, ohne die benötigte Verstärkung zu reduzieren.
Ähnliches gilt für die direktionale Mikrofontechnologie. Erste Systeme wurden noch mechanisch mittels einer speziellen Mikrofonabdeckung vom Nutzer händisch „aktiviert“. Die Überlegenheit moderner automatischer Richtmikrofone mit unter anderem einem binauralen Abgleich ist ein weiterer beeindruckender Beleg für die Innovationskraft der Branche.
Nach seinem Vortrag bedankte sich die EUHA-Präsidentin Beate Gromke nochmals herzlich bei Horst Warncke, der sich nun in den wohlverdienten Ruhestand begibt, für sein langjähriges Engagement.
Resümee
In ihren Ausführungen zeigten Warncke sowie viele andere Referenten zum Beispiel beim Future Friday, dass die Hörakustik viele technische und innovative Entwicklungen hervorgebracht hat und stetig weiterentwickelt. Sich in dieser Branche zu engagieren ist höchst reizvoll. Die Vizepräsidentin der Bundesinnung der Hörakustiker KdöR (biha), Janine Otto, mahnte auf der diesjährigen biha-Mitgliederversammlung eindrücklich, mehr Fachkräfte auszubilden. Um die jungen Menschen für den Beruf zu begeistern, ist es wichtig, ihnen auch zu vermitteln, dass es sich bei der Hörakustik nicht um ein altbackenes Handwerk handelt, sondern um eine hoch innovative Branche, die vielfältige individuelle Entwicklungsmöglichkeiten bereithält. Das Vortragsprogramm des EUHA-Kongresses verdeutlichte dies erneut eindrücklich.