Ein Besuch bei Lehmann Hörakustik - "Hören von hier!" in Kirchzarten
Aufgrund von COVID-19 steht unser Leben seit Wochen still. Reihenweise abgesagte Veranstaltungen, Kurzarbeit bei Herstellern sowie Fachgeschäften, die darüber hinaus in einem Dilemma stecken:
Als systemrelevanter Beruf tragen Hörakustiker eine besondere Verantwortung. Doch wenn selbst große Filialisten schon teils ihre Geschäfte schließen, was bedeutet diese außergewöhnliche Situation für Unternehmensgründer? Audio Infos besuchte ein Hörakustikfachgeschäft, das genau vor einem Jahr eröffnete: Lehmann Hörakustik aus Kirchzarten.
Das Dreisamtal ist klein, idyllisch und vor allem grün. Durchzogen von vielen kleinen Bächen, die sich irgendwann zur Dreisam vereinigen, ist es das grün der Wiesen, das diesen breiten, ebenen Talgrund so prägt. In einer dieser kleinen Gemeinden zu wohnen gleicht daher einem kleinen Privileg. Weil es nach Freiburg nur ein Katzensprung ist, möchten viele in dem Tal leben, das so malerisch vom Schwarzwald umrandet wird und von Osten auf die Stadt blickt. Nicht selten kostet deshalb eine Immobilie dort auch gern eine Million Euro.
Es ist nicht das erste Mal, dass Audio Infos aus dem Dreisamtal berichtet. Schließlich befindet sich dort ebenso das Bildungs- und Beratungszentrum für Hörgeschädigte Stegen. Das BBZ ist einer der wenigen Orte in Deutschland, an dem ein durchgängiges Bildungsangebot speziell für hörgeminderte Kinder und Jugendliche vom Kindergarten bis zum Abitur geboten wird. Wie sehr die Pandemie unser aller Leben umkrempelt, erkennt man ganz gut daran, dass im BBZ Stegen bereits am 9. März eine Lehrerin positiv auf COVID-19 getestet wurde.
Zu dem Zeitpunkt hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) das Risiko einer Verbreitung noch für gering bis mäßig erachtet, die Politik noch nicht auf die Situation reagiert. Nichtsdestotrotz deutete sich schon da an, welche gravierenden Auswirkungen durch das Coronavirus entstehen würden, allgemein wie auch für die Hörbranche. Erste außerordentliche Gemeinderatssitzungen wurden einberufen, Supermärkte leergefegt und erste Arztpraxen sowie Geschäfte führten erste Maßnahmen ein.
Entsprechend früh mussten sich im benachbarten Kirchzarten, dessen Zentrum sich drei Kilometer entfernt vom BBZ befindet, die drei hiesigen Hörakustikfachgeschäfte ebenso mit der völlig neuen Situation auseinandersetzen. Unter ihnen befindet sich interessanterweise auch ein Jungunternehmer, der erst im April 2019 sein Geschäft eröffnete: Florian Lehmann. Wie hart trifft es einen Unternehmensgründer, wenn schon große Filialisten teils ihre Geschäfte schließen müssen?
Trotz der widrigen Umstände erlaubt der junge Hörakustikmeister Audio Infos, sein Geschäft zu besuchen. Es befindet sich direkt in der Mitte der kleinen Kirchzartener Fußgängerzone, die im Verhältnis zur Größe des Ortes ziemlich viele kleine Geschäfte aufweist. Einst führte hier die Hauptstraße durch. Nun weist ein Brunnen auf die Ortsmitte hin. Der Eingang zu Lehmann Hörakustik liegt nur wenige Schritte davon entfernt. Beim Herantreten sticht gleich eine Kundeninformation ins Auge. „Liebe Kunden, aufgrund der derzeitigen Situation bitten wir Sie, uns nachzusehen, dass wir Termine und Service nur ausschließlich nach telefonischer Voranmeldung anbieten können.“
Nach wenigen Sekunden dreht sich der Schlüssel. Vor der Tür steht ein junger Mann mit Brille und Mundschutz. „Eigentlich fahren hier keine Autos, Sie hätten aber ruhig mit diesem vorfahren können. Es ist erlaubt und ich habe glücklicherweise die Möglichkeit, als Einziger einen Kundenparkplatz direkt neben dem Eingang anbieten zu können. Sonst hätte ich jetzt den Corona-Drive-in-Service, den ich vor ein paar Tagen gestartet habe, gar nicht realisieren können“, erklärt Florian Lehmann bei der Begrüßung lachend. Chance trotz Krise?
Neben dem Eingang wie auch im Hintergrund des Servicebereiches hängen zwei große Monitore. Über den Bildschirm huschen Schwarzwald- impressionen. Kurz nach der großen Schaufensterfassade an der rechten Wand hängen zwei Bilder, die an die traditionellen Schwarzwald Bollenhüte erinnern.
Als es in den Anpassraum geht, der mit über 20m2 groß ausfällt und dessen Interieur zwischen warmem Holz und einem Appleweiß abwechselt, beginnt Florian Lehmann, seine Idee mit dem Corona-Drive-In-Service näher zu skizzieren. Nachdem er von der Nachricht aus dem BBZ erfahren habe, sei ihm sofort klar geworden, dass ein normaler Geschäftsbetrieb so nicht mehr möglich sein wird. Die Entscheidungen der Landes- sowie Bundesregierung in der Woche darauf hätten dies ja bestätigt. „Kundenfrequenz und der damit verbundene Umsatz während der reglementierten Ausgangssperren werden auf eine unabsehbare Zeit geringer sein. Das ist für mich, der im April letzten Jahres erst das Geschäft aufgemacht hat, natürlich herausfordernd. Nachdem ich die ersten beiden Tage der Schockstarre überwunden hatte, stellte sich daher für mich eine zentrale Frage. Was kann ich tun, um trotz dieser widrigen Umstände einen möglichst hohen Schutz für meine Kunden, insbesondere für die älteren Kunden, auf Dauer gewährleisten zu können?“, erläutert der junge Inhaber, der auf Anhieb den Eindruck hinterlässt, auf gar keinen Fall den Kopf in den Sand stecken zu wollen.
Als erste Reaktion habe er „klassische“ Angebote ein- beziehungsweise umgestellt. Hierzu gehörten erhöhte Hygienemaßnahmen, verstärkte telefonische Beratung und Batterie-Postversand. Darüber hinaus habe er sich selbstverständlich mit befreundeten Unternehmen und Partnern ausgetauscht, um zu hören, wie sich die Kollegen nun verhalten. „In der Woche stellten sich so viele Fragen. Und rechts und links zu gucken, schadet eigentlich nie. In den Foren bei Facebook ging es aber völlig ab und überall war die Verunsicherung zu spüren“, so Florian Lehmann.
Irgendwann jedoch sei er auf den Eintrag eines Akustikers gestoßen, der einen Abholservice für Hörsysteme eingerichtet hat. Daraufhin habe er sich überlegt, ob man diesen nicht weiterentwickeln könne. „Was wäre, wenn man einen Kundenumgang so aufbaut, dass der Kunde im Auto am direkt angrenzenden Kundenparkplatz sitzen bleiben kann? Hörsysteme und Zubehör könnten auf Kundenwunsch hin am Auto abgeholt, im Fachgeschäft gereinigt oder überprüft werden. Auch könnten zur Not die Hörsysteme meiner Kunden im Fahrzeug aus dem Fachgeschäft heraus per Funk via NOAH-Link wireless angepasst werden. Eine Art Corona-Drive-In-Einstellung eben, falls alle anderen Möglichkeiten ausfallen. Das ermöglicht zumindest einen Umgang mit den Kunden, der fast zu hundert Prozent kontaktlos ist“, erklärt Florian Lehmann. Das sei wahrscheinlich nicht optimal, zumindest sei jedoch so eine erste Hilfe für diejenigen garantiert, die wegen fehlendem Smartphone kein RemoteFitting in Anspruch nehmen könnten. Auch eine Bezahlung, so Lehmann, könne auf diese Weise erfolgen, mittels SumUp-Terminal und Smartphone.
Zwar werde das neue Serviceangebot kaum wahrgenommen. Dennoch habe sich die Aktion aus seiner Sicht doppelt gelohnt. Zum einen hätten die Kunden gemerkt, dass sich da jemand zu diesem Punkt intensiv Gedanken machen würde. Zum anderen sehe er, dass ein Umdenken bei den Kunden selbst einsetzen würde. „Kunden schätzen es, wenn man im Alltag zu 100 Prozent für sie da ist. Und dazu gehört normalerweise auch ein gewisser physischer Kontakt. Da aber alle wissen, dass das heute so nicht mehr geht, sind Kunden daher jetzt auch so weit, solche Angebote anzunehmen“, ist sich Florian Lehmann sicher, der im Augenblick nur einen Kunden pro Termin im Geschäft zulässt. Diese Exklusivität schätzen Lehmanns Kunden.
Noch sei der Terminkalender sehr gut gefüllt. Auch habe er gerade in den letzten Tagen viele Ersttermine vereinbart. Wie groß sind da seine Bedenken für die nächsten Wochen und Monate? „Wohl ist mir gewiss nicht bei dem Gedanken. Aber was soll ich machen? Eine vorübergehende Schließung ist für mich jedenfalls keine Alternative. Auch wenn der Geschäftsstart seit dem letzten Jahr wunderbar angelaufen ist, bin ich nicht in der Situation, den Laden Ewigkeiten schließen zu wollen. Außerdem brauchen mich meine Kunden“, erklärt der Junginhaber.
Den Entschluss, den Schritt in die Selbständigkeit zu vollziehen, traf Lehmann dabei erst im Januar 2019, genau an seinem Geburtstag. Zwar habe er sich immer wieder mal mit dem Gedanken latent befasst, allerdings hätte er wohl diesen nicht realisiert, wenn ihn nicht seine Lebensgefährtin immer wieder dazu ermuntert hätte. „An dem Tag war es halt so weit. Nicole sagte immer wieder, ich könne mit Ausnahme meiner Investition nichts verlieren und mich locker von den Mitbewerbern, die in ihrem Fahrwasser gefangen sind, abheben. Und in der Tat, es ist mir in Kirchzarten locker gelungen“, so Lehmann.
Denn mit dem Entschluss legte der Hörakustikmeister laut eigener Aussage den „Turbogang“ ein. Nachdem er sich am Morgen vergewissert, dass die Immobilie, die er über lange Zeit im Auge hatte, noch zu mieten war, folgte am nächsten Tag der Termin bei der Bank. „Ich habe mich abends noch hingesetzt, über Nacht meinen Kreditbedarf ausgerechnet und ein erstes Betriebskonzept ausgearbeitet, das ich „Hören von hier!“ genannt habe. Danach bin ich hin, habe erklärt, was ich verkaufen muss, um zu überleben. Das war’s. Die Bank war sofort überzeugt, dass das funktionieren wird“, erinnert sich der junge Inhaber.
Weder Kunden noch Freunde wurden in die Selbständigkeitspläne miteingeweiht. Nachdem Lehmann über Wochen seinen Laden mit Ausnahme einer Trennwand alleine renovierte, folgt im Mai 2019 schließlich die Eröffnung. „Das war eine harte Zeit. Tagsüber Umbau und nachts das Geschäft vorbereiten, nach USP fahnden oder Homepage bauen. Da kam vieles zusammen, doch es hat sich sofort ausgezahlt. Denn ich hatte noch nicht einmal ein Telefon, bekam aber schon reihenweise Terminanfragen“, sagt Lehmann.
Dabei ist Lehmanns Konzept „Hören von hier!“ so einfach wie wirksam. Er identifiziert sich mit seinem Dreisamtal, kombiniert das mit einem exklusiven Produktportfolio und verspricht seinen Kunden eine Anpassleistung on Top. Das Konzept sei Lehmann zufolge gewiss keins, das die Branche noch nicht kennen würde. Aber: „Wie jeder Slogan soll „Hören von hier!“ dazu führen, dass jeder automatisch an mich denkt. Denn das Geschäft steht und fällt mit meiner Person. Wenn es etwas gibt, das mich so richtig differenziert, dann ist es meine Herkunft. Ich bin halt ein Kind des Dreisamtals und wollte damit Heimatverbundenheit demonstrieren. Bei der Suche war ich daher verwundert, dass nur die wenigsten den Aspekt Regionalität und Heimat so richtig herauskehren. Die allermeisten wählen lieber einen Technikbezug.“
Die Thematik Schwarzwald habe er nach eigener Aussage jedoch noch nicht ausreichend ausgereizt. Gelungen sei ihm das bis jetzt nur in einigen Punkten, vom Slogan über das Interieur bis hin zur Außendarstellung. Daher gebe es noch einige Ideen und Vorhaben, für deren Umsetzung er einfach noch keine Zeit gehabt habe. „Für den Moment ist das in Ordnung. Das Ziel ist klar definiert. Ich will gutes Hören hier im Tal, und das bodenständig, hochwertig und fair“, so Lehmann.
Um diesen Anspruch zu erfüllen, musste der Hörakustikmeister nach der Eröffnung natürlich noch weitere Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehört unter anderem ein fein abgewogenes Produktportfolio. Neben einem Hauptlieferanten, der sich von der Vorortkonkurrenz unterscheidet, sucht sich Florian Lehmann im letzten Jahr mit der „Best Akustik“ eine recht kleine und erst zwei Jahre alte Einkaufsgemeinschaft – aber auch hier kennt und vertraut man sich. Zudem beginnt er eine intensive Zusammenarbeit mit Rhein-Neckar-Akustik. „Ich kenne Lennart Goth und Nils Hampel schon sehr lange. Als sie mir den Ansatz hinter der Marke OptimusHearing verrieten, war es für mich keine Frage, als Partner im Raum Freiburg einzusteigen, zumal wir ja auch in Sachen Otoplastiken bereits zusammenarbeiten. Rhein-Neckar-Akustik verfügt über ein eigenes Labor mit 3D-Druckern und Mitarbeitern, die so gut fertigen, dass mir diesbezüglich viel Ärger erspart bleibt“, so Lehmann.
Einen weiteren wichtigen Schritt machte Lehmann nicht zuletzt im Dezember. Seither arbeitet der langjährige In-Situ- und Perzentil-Fan intensiv mit audiosus zusammen. Lehmann zufolge profitierten sowohl Kunden als auch der Hörakustiker von dem subjektiven Anpassverfahren. „Es ist ein wahnsinnig tolles Feature, das vor allem jetzt im Augenblick riesen Vorteile bietet, weil dadurch komplett kontaktlos programmiert und Anpasszeit eingespart wird. Der Kunde sitzt in zwei Metern Abstand vor den kalibrierten Lautsprechern und ich lege ihm die Hörgeräte, die er selbst einsetzen kann, einfach auf den Tisch“, freut sich Florian Lehmann.
Kurz danach steht eine Kundin vor der Tür. Wir müssen aufhören. Lehmann begleitet mich zur Tür. Auf dem Weg dorthin kommen wir nochmals auf die Pandemie zu sprechen. Das Ganze sei schlimm. Für seine Kunden, für ihn, für alle. Er wisse zwar nicht, wie lange die Situation noch andauert. Ebenso habe er keine Ahnung, was da auf uns alle noch zukommt. In einem sei er sich jedoch relativ sicher. „Ich habe damals das Geschäft eröffnet, weil ich wusste, dass die Dreisamtäler die Nähe schätzen und ungern aus dem Tal in die Stadt wollen. Sie lieben ihren Mikrokosmos. Weil das so ist, spielt sich das Leben hier im Tal ab. Deshalb weiß ich, dass es irgendwann wieder auch normal weitergehen wird.“