Oticon Tour 2020: Neue EEG-Messmethode, neuer Akzent in der Mittelklasse
Die Oticon Tour 2020 fand in diesem Frühjahr digital statt. Man folgte den Präsentationen am Bildschirm im Betrieb oder zu Hause und nicht in den Seminarräumen der Hotels.
Fragen stellte man im Chat statt per Wortmeldung. Inhaltlich verlief der Termin aber wie gewohnt und man erfuhr Spannendes aus der Audiologie sowie Nützliches zu dem neuen Produkt.
Zu Beginn haben ein paar Teilnehmer noch Probleme mit dem Verstehen. Aufgrund der Corona-bedingten deutschlandweiten Internetüberlastung funktionierte der Ton nicht bei allen, das kann man im Chat lesen. Doch das ist nach erneutem Einloggen in den digitalen Konferenzraum an diesem 1. April schnell behoben, und schon hört man die vertraute Oticon-Stimme von Horst Warncke durch die Computer-Boxen die Teilnehmer begrüßen. Oben rechts ist der Leiter der Audiologie auf dem Bildschirm zu sehen. 60 Computer sind für die digitale Roadshow eingeloggt. Vor vielen Schirmen sitzen zwei oder drei Personen, so dass dieses Webinar rund 90 Teilnehmer zählt.
Es ist bereits der sechste Termin der digitalen Oticon Tour 2020. Zwei weitere folgen an den beiden nächsten Tagen. Kurz darauf gibt der Hersteller bekannt, wegen der großen Nachfrage zwei Extratermine anzubieten, so dass am Ende zehn Stopps der digitalen Tour absolviert sein werden. Dazu kommt, nimmt man es genau, noch eine weitere Veranstaltung, die ganz klassisch ablief: Am 9. März war das Oticon-Team für den Tour-Auftakt noch real in Neumünster. Doch danach „mussten wir leider abbrechen“, wie Horst Warncke eingangs erzählt. Ohne Corona-Pandemie wären es 14 Veranstaltungen gewesen.
Um die gestreamte Datenmenge kompakt zu halten, sieht man nach der Begrüßung nur noch die Fotos der beiden Referenten Horst Warncke und Andreas Stenzel, dazu kommen die Folien der Präsentation und der Ton.
Inhaltlich wird es in den kommenden zwei Stunden um zwei Themen gehen. Im ersten Teil wird es sich um die nun auch per EEG-Messung erwiesene Wirkung der Multiple Speaker Access Technology des OpenSound Navigators drehen. Im Zweiten wird es um die „Ruby“-Geräte gehen, die neuen Mittelklasse-Hörsysteme von Oticon.
Der Mensch im Zentrum
Sozusagen zum Aufwärmen berichtet Horst Warncke von einigen Errungenschaften aus der Oticon-Geschichte. Er betont, dass bei all den technologischen Entwicklungen für Oticon stets der Mensch, also der Nutzer, im Vordergrund stehe. Dessen Leben will man mit neuen Technologien verbessern – life-changing technology, um es mit dem neuen Claim des Herstellers zu sagen.
Um zu belegen, dass diese Entwicklungen mehr sind als technische Spielereien, lässt Oticon viele Studien durchführen. So meldete das Unternehmen im Februar dieses Jahres, man könne nun durch EEG-Messungen belegen, dass die Gehirne von Probanden mit „Opn S“-Hörsystemen und eingeschaltetem OpenSound Navigator (OSN) in Tests Schall- ereignisse besser organisieren können als bei ausgeschaltetem OSN. Aber was genau hat man bei diesen Tests gemacht?
Hat man eine Hörminderung und ist mehreren Schallquellen ausgesetzt, kann das Gehirn diese nicht mehr so auseinanderdividieren wie das Gehirn eines Normalhörenden. Normalhörende können noch bei einem SNR von -15 dB den Zielsprecher verstehen, erklärt Horst Warncke. Hörgeminderte nehmen solche Situationen wie „einen Klangbrei“ wahr. Die selektive Aufmerksamkeit funktioniert nicht mehr richtig, man kann sich bei mehreren Sprechern kaum mehr auf den Zielsprecher konzentrieren und nimmt die Stimmen verzerrt wahr, so Warncke. „Das ist das erste, was Menschen bei einem Hörverlust merken. Zuhause können sie noch wunderbar verstehen, draußen nicht mehr.“
Die selektive Aufmerksamkeit ist also entscheidend für soziale Interaktion. Ohne sie droht soziale Isolation. Ohnehin gehe man „heute davon aus, dass die selektive Aufmerksamkeit die großartigste Leistung unseres Gehirns ist“, betont Horst Warncke. Für ihre Entwicklung braucht das Hirn 16 bis 18 Jahre. Funktioniert sie nicht mehr, führt das in Situationen mit mehreren Sprechern und anderem Störlärm zu mehr Höranstrengung und schlechterer Merkfähigkeit. Es steigt das Risiko, eine Depression zu entwickeln, und die Wahrscheinlichkeit, dement zu werden, nimmt bis zum Fünffachen zu. Eine Versorgung mit Hörsystemen könne dem entgegenwirken, der Abbau der geistigen Fähigkeiten komme dann wieder auf das Niveau wie bei gleichaltrigen Normalhörenden, so Horst Warncke.
Die selektive Aufmerksamkeit
Um zu erklären, wie man bei den eingangs erwähnten EEG-Messungen vorgegangen ist, geht der Leiter der Audiologie der Oticon GmbH zunächst weiter auf die selektive Aufmerksamkeit ein. Lange sei man davon ausgegangen, dass das menschliche Gehirn hierfür „wie ein Scheinwerfer“ arbeite, was „die Analogie zum Richtmikrofon herstellt“, so Warncke. Man habe gedacht, das Gehirn konzentriere sich auf einen Sprecher und blende dabei, um beim Bild des Richtmikrofons zu bleiben, alle anderen akustischen Signale um sich herum mehr oder minder aus. Allerdings will der Mensch evolutionsgemäß eben auch überleben, also sich nähernde Feinde aus allen Richtungen stets auch hören können. Man bleibt sozusagen rundum weiter in Habachtstellung. Und das steigert in solchen Situationen die Höranstrengung.
Doch nun haben neue neurologische Untersuchungen gezeigt, dass das Gehirn für die selektive Aufmerksamkeit eher wie ein Filter arbeitet. Es sammelt Input und filtert das heraus, was man hören möchte – und bleibt gleichzeitig in Habachtstellung. „Das Gehirn braucht also möglichst viel Input, damit es genügend Futter hat“, fasst Horst Warncke zusammen. Das Liefern von „genügend Futter“ ist bekanntlich auch die Idee des OSN. Dank der Multi Speaker Access-Technologie fokussieren Hörsysteme mit aktiviertem OSN nicht allein den dominanten Sprecher und blenden alles Weitere aus. Durch die Erkennung lokalisierbarer, nicht sprachlicher Geräusche werden diese in eine Balance zur Sprache im Vordergrund gebracht, so dass man in lärmigeren Situationen weiterhin auch seine akustische Umgebung quasi im Blick behalten kann. Die Habachtstellung kostet also nicht so viel Energie und das Gehirn wird bei seiner Arbeit unterstützt. BrainHearing nennt man das bei Oticon.
Dass mithilfe des OSN gerade in schwierigen Situationen die Sprachverständlichkeit steigt, hat Oticon in 14 von verschiedenen Universitäten durchgeführten wissenschaftlichen Studien nachgewiesen, so Horst Warncke. Aber warum das so ist, das konnte man bisher „nur erahnen“. Doch nun hat man das untersucht. Und dafür habe man nicht mehr nur messtechnisch geschaut, ob sich der SNR verbessert.
So wurde von unabhängigen Forschern ein neues EEG-Testverfahren entwickelt, das Oticon auf die Anwendung mit Hörsystemen adaptiert hat. Um dabei aus den EEG-Messungen die Hirnantworten auf die akustischen Signale herausfiltern zu können, hat Emina Alickovic, eine Mitarbeiterin von Oticon, einen Algorithmus entwickelt.
EEG-Messungen in Eriksholm
Für die Tests simulierte man im Forschungszentrum von Oticon in Eriksholm eine Situation mit zwei Zielsprechern und vier mal vier Störsprechern. Das menschliche Gehirn scannt in so einer Situation, welche Ereignisse es überhaupt gibt. Der OSN tut dies ebenfalls, 500 Mal in der Sekunde. Dann werden die Ereignisse gewichtet. Was ist Sprache? Was sind Geräusche? Der OSN ahmt quasi die Arbeitsweise des Gehirns nach – auch unter Berücksichtigung der naturgemäßen Habachtstellung.
An den Tests nahmen 22 erfahrene Hörsystemnutzer mit leichter bis mittlerer Schwerhörigkeit teil, durchschnittlich 67 Jahre alt. Denen passte man „Oticon Opn S“-Geräte mit der Voice Aligned Compression samt Soft Speech Booster (VAC+)-Strategie an.
In den Tests wurde die Aktivität der Ziel- und Störsprecher zufallsgesteuert. Sechs Lautsprecher übertrugen den Schall. Der SNR lag bei +3 dB. Die Probanden sollten sich auf einen Zielsprecher konzentrieren und alles andere ignorieren. Dann wurden sie gebeten, sich auf den zweiten Zielsprecher zu konzentrieren, um zu testen, ob sie ihren Fokus wechseln können. Anschließend wurden sie nach dem Inhalt der Zielsignale befragt.
Bei den Tests trugen die Probanden EEG-Kappen mit 64 Elektroden, so dass man 64 Spannungswerte des Gehirns erhielt. Die Einhüllende oder Envelope der Spannungswerte wurde dann von dem Algorithmus von Emina Alickovic mit der Envelope der im Test präsentierten Sprachsignale verglichen, so dass man sehen konnte, ob das Hirn eine Antwort auf das entsprechende akustische Signal gegeben hat. Passen Envelope und Spannungswert zusammen, ist erwiesen, dass der Proband in diesem Moment dem Zielsprecher zugehört hat. Dieses Phänomen kann man sich übrigens sehr gut in Videos auf YouTube ansehen, die die amerikanische Forscherin Nina Kraus auf der Plattform eingestellt hat.
Das Ergebnis der Tests zeigte schließlich, dass die Probanden bei ausgeschaltetem OSN zwar dem ersten Zielsprecher noch gut zuhören konnten, der zweite Zielsprecher allerdings im Störlärm unterging. Sie konnten ihre Aufmerksamkeit also nicht auf den zweiten Zielsprecher wechseln. Dies ist typisch für klassisch agierende Richtmikrofone, die sich auf den dominantesten Sprecher ausrichten. Bis zu zehn Sekunden dauere es, bis ein Hörsystem merke, dass es noch einen zweiten Sprecher gibt, so Horst Warncke. Und wird dann zweite Zielsprecher fokussiert, ist der erste weg. „Damit ist der Wechsel der Aufmerksamkeit limitiert“, so der Leiter der Audiologie bei Oticon in Hamburg.
Anders verhielt es sich bei aktiviertem OSN. Nicht nur dass der erste Zielsprecher um noch mal 10 % besser gehört wurde. Der zweite Zielsprecher wurde gar um 95 % besser wahrgenommen, was den Wechsel der Aufmerksamkeit von einem zum anderen Zielsprecher ermöglicht. Zudem seien die Störgeräusche in der Hirnwahrnehmung noch mal um 50 % reduziert worden. „Eine großartige Leistung durch den OpenSound Navigator bei der Unterstützung des Gehirns. Damit sind die Bedingungen geschaffen, Dinge auswählen oder ausblenden zu können. Und auch der Hintergrundlärm ist weniger störend. Und damit ist dann auch die soziale Interaktion wieder besser möglich. Man nähert sich also wieder Normalhörenden an“, resümiert Horst Warncke. Denn auch das habe man untersucht. Und tatsächlich könne ein hörgeminderter Über-60-Jähriger mit modernen Hörsystemen mit OSN genauso gut hören wie ein Normalhörender Über-60-Jähriger. „Das ist eine grandiose Mitteilung“, so Warncke. „Man kann seinem Kunden also sagen: Sie werden wieder so hören wie gleichaltrige Normalhörende.“
Neuer Akzent in der Mittelklasse
Auf den Vortrag von Horst Warncke folgt, ganz wie bei den realen Roadshows, eine kleine Kaffeepause – nur dass die dieses Mal jeder für sich verbringt. Anschließend geht es weiter mit der Präsentation von Andreas Stenzel.
Zum Einstieg zeigt der technische Leiter Audiologie der Oticon GmbH das aktuelle Produktportfolio, von den „Opn S“- bis zu den „Geno“, „Como“ und „Get“-Geräten. Besonders hervor hebt er die im vergangenen Jahr gelaunchten Super- und Ultra Power-Geräte „Xceed“, verfügbar in drei Technologiestufen. Apropos Power-Lösungen: Hier hat Oticon mit dem „Dynamo SP 6“ mit Speech Rescue-Funktion nun ein „sehr leistungsfähiges, audiologisch hochwertiges System im Super Power-Bereich“, das von den Kassenleistungen abgedeckt werde, so Andreas Stenzel. Nicht zu vergessen die „Xceed 1“ und „Xceed 2“- sowie die „Xceed Play 1“ und „Xceed Play 2“-Geräte für die Pädakustik.
Dann kommt Andreas Stenzel auf die neuen Mittelklasse-Geräte von Oticon zu sprechen. Normalerweise, also bei den realen Roadshows, hätte man an dieser Stelle den Song „Ruby, Ruby, Ruby“ gespielt, erzählt er. Doch nun muss er ohne die einleitenden Klänge der Kaiser Chiefs auf die Klangqualität der neuen Produktfamilie überleiten.
„Ruby baut auf neuen, grundsätzlichen Standards in der Mittelklasse, die wir eigentlich nur von High-End-Geräten kennen“, eröffnet Stenzel. So sollen die „Ruby“-Geräte durch die verbauten Komponenten wie Chip oder Hörer mit ihrer Klangqualität bestechen. Die ist hier „ein wichtiger Faktor“, so Stenzel. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Wiederaufladbarkeit. Die gehöre heute auch in der Mittelklasse dazu. Und so lässt sich die wiederaufladbare „Ruby“-Variante wie das „Opn S“ induktiv in der Ladestation aufladen, drei Stunden für den Tagesbedarf an Energie. Ebenfalls zur Mittelklasse gehöre heute die Konnektivität, der hier mit 2,4 GHz Antennentechnologie, Bluetooth Low Energy, Stereo Streaming bis 7,5 kHz, TV-Adapter, ConnectClip und Oticon On-App-Kompatibilität Rechnung getragen wird. Mit all dem möchte Oticon „in der Mittelklasse einen neuen Akzent setzen“, so Andreas Stenzel.
In ihrer Funktionalität sieht Oticon die „Ruby“-Hörsysteme am Zahn der Zeit. Vor allem die Akku-Lösung und die Bedienmöglichkeiten über die App seien das, was (potenzielle) Kunden heute am meisten überzeuge – freilich immer unter der Voraussetzung guter Klangqualität. Und für die sorgen, wie eingangs gesagt, die verbauten Komponenten. Allen voran der Velox S Chip von Oticon, der auch der Motor der „Opn S“-Geräte ist. Mit 56.000 Messungen pro Sekunde an den Mikrofonkanälen sorgt der zum Beispiel für die Rückkopplungsunterdrückung – eine Kombination aus Feedback Shield und Super Shield. „Eigentlich ist hier der Begriff Feedback Management nicht angebracht“, sagt Andreas Stenzel. „Wir reden hier über proaktive Klangverbesserung.“ High-End goes Mittelklasse.
Dazu kommt die Signalverarbeitung über 48 Frequenzkanäle mit „sehr feinen Übergängen, was ebenfalls eine wichtige Komponente für die Klangqualität ist“, erklärt Stenzel. Auch neue Algorithmen tragen zur Signalverarbeitung und damit zur guten Klangqualität bei, genau wie eine fließende, mehrkanalige, adaptive Direktionalität, die den SNR verbessere. Zudem verfügen die „Ruby“-Systeme über dasselbe Lärmmanagement wie die „Opn S 3“-Geräte, eine Single Compression-Signalverarbeitungsstategie, Windgeräusch-Management, Speech Rescue und Tinnitus SoundSupport.
In der Folge geht Andreas Stenzel genauer auf die einzelnen Features und ihre Technologien ein. So biete zum Beispiel die mehrkanalige, adaptive Direktionalität eine „sehr schnelle und fließende automatische Anpassung“, die auf Geräuschquellen in jedem Frequenzkanal individuell reagiert und so dominante, lokalisierbare Lärmquellen absenkt. „Jeder der 15 Frequenzkanäle hat also seine eigene Richtcharakteristik“, erklärt Andreas Stenzel. Damit ermöglicht diese mehrkanalige Direktionalität sanfte Übergänge zwischen den Direktionalitätsmodi, was auch wieder die Klangqualität verbessere.
Bei der Anpassung kann man in Genie zwischen drei Modi wählen. Da ist zunächst der Enhanced Omni-Modus, was hier bedeutet, dass das Eigenrauschen der Mikrofone abgesenkt wird. Dann gibt es den Multiband Adaptive Direktionalität-Modus, der sich für das allgemeine Programm empfiehlt, weil er durch permanente SNR-Messung dafür sorge, dass der Nutzer sich auf seinen Gesprächspartner vorne oder seitlich konzentrieren kann, ohne seine Hörsysteme dafür bedienen zu müssen. Und schließlich gibt es den Modus Volle Direktionalität für sehr laute Situationen. Hier sorgt das Lärmmanagement LX dafür, dass der Nutzer bei Sprache in Sprache im Lärm den Lärm um bis zu 3 dB abgesenkt bekommt, was wiederum für weniger Höranstrengung, besseres Sprachverstehen und bessere Klangqualität sorge.
Allmählich geht diese digitale Roadshow zu Ende. Und auch wenn das Umfeld der Teilnehmer dieses Mal ein anderes war als die gewohnten Seminarräume in Hotels, wird man doch mit etwas für Roadshows von Oticon Obligatorischem verabschiedet: dem Quiz auf Kahoot.it. zehn Fragen stellt Horst Warncke, auf jede gibt es vier Antwortmöglichkeiten, manchmal sind auch mehrere Antworten richtig. Außerdem geht es um Schnelligkeit. Wer heute gut aufgepasst hat und schnell antwortet, dem winkt sogar ein Preis. Die biha-Punkte hingegen haben sich heute alle verdient.