WIDEX MOMENT: „Schnellerer Zugang über natürliche Klangqualität“
Seit März dieses Jahres bietet Widex die Hörsystem-Serie WIDEX MOMENT an. Zwei Wochen nach dem Marktstart kam der Lockdown.
Wie man in Stuttgart mit der Situation umgegangen ist, was die MOMENT-Geräte auszeichnet, welche Erfahrungen man mit SoundSenseLearn gemacht hat – darüber und über einiges mehr geben hier Geschäftsführer Kay Buchhauser, der audiologisch-wissenschaftliche Leiter Simon Müller und der Leiter Hörakustik Rüdiger Luithle Auskunft.
Herr Buchhauser, Herr Müller, Herr Luithle, wie ist Widex bisher durch die Pandemie gekommen? Und wie konnten Sie Ihre Kunden in diesen Zeiten unterstützen?
Buchhauser: Von den Einschränkungen durch COVID 19 sind wir alle ja weiterhin betroffen. Der Lockdown hat uns alle verunsichert und auch ganz neue Herausforderungen mit sich gebracht. Schaut man sich heute um, hat sich die Branche insgesamt allerdings als sehr robust und lösungsorientiert erwiesen. Dazu haben wir als Hersteller einen kleinen Teil beigetragen, indem wir für unsere Kunden immer erreichbar und lieferfähig waren. Die größte Last haben allerdings die Hörakustiker und Hörakustikerinnen vor Ort getragen – und mit Organisationstalent und Geschick gemeistert.
Luithle: Um unsere Kunden zu unterstützen, stellten wir unser Produkttraining sehr schnell von der Vor-Ort-Variante auf individuelle Online-Trainings um. So konnten wir viele der vereinbarten Schulungstermine beibehalten und für unsere Kunden da sein. Das hat es uns auch ermöglicht einen Fokus auf unsere RemoteCare-Lösung zu legen, um zusätzlich zu unterstützen. Parallel dazu haben wir die Themenanzahl der allgemeinen Online-Seminare erhöht, so konnten unsere Kunden ihr Wissen zur MOMENT Plattform, aber auch zu allgemeinen audiologischen Themen vertiefen.
Die Markteinführung von MOMENT startete am 1. März. War das ein Auftakt mit erschwerten Bedingungen?
Buchhauser: Anfangs überhaupt nicht. Am 1. März war die Lage noch etwas undurchsichtig und man wusste nicht genau, was auf einen zukommt. Die ersten zwei Wochen startete MOMENT fulminant, bis am 16. März der jähe Stopp kam. Nach einer eher ruhigen Phase im April konnten wir im Mai wieder durchstarten. Seitdem geht MOMENT auf einer schönen geraden Linie nach oben, die Rückmeldungen sind äußerst positiv.
Sie bewerben das MOMENT auch mit der Aussage, es klinge nicht wie ein Hörsystem. Woran machen Sie das fest?
Luithle: Mit MOMENT haben wir eine Eigenschaft eliminiert, die bisher mit jedem digitalen Hörsystem bei einer offenen Anpassung wahrnehmbar war: den Kammfiltereffekt. Diese Eliminierung erreichen wir über den ZeroDelay-Verarbeitungspfad. Durch eine neue Verarbeitungsstruktur, die auch eine Integration und Neustrukturierung unseres Feature-Settings beinhaltet, können wir die Durchlaufzeit des Signals bei leichten bis mittelgradigen Hörverlusten auf unter 0,5 Millisekunden senken. Das macht die Natürlichkeit des Klangs von MOMENT aus.
Müller: Gerade Menschen mit leichten bis mittelgradigen Hörminderungen haben häufig Schwierigkeiten, sich an Hörsysteme zu gewöhnen. Mit dem Feature PureSound ermöglichen wir es genau diesen Menschen, über eine natürliche Klangqualität schneller Zugang zu einem Hörsystem zu finden.
Welche technologischen Voraussetzungen brauchte es, damit Sie eben die ZeroDelay- Technologie mit der Neuerung PureSound umsetzen konnten?
Luithle: Der Kammfiltereffekt entsteht, wenn der verarbeitete Schall und der Direktschall zeitverzögert auf das Trommelfell treffen. Es ist zwar nur eine Verzögerung um wenige Millisekunden, aber die dadurch entstehende Phasenverschiebung reicht aus, um hörbare Interferenzen im Gehörgang entstehen zu lassen. Nötig war also, die Signalverarbeitung so schnell durchzuführen, dass es erst gar nicht mehr zu einer hörbaren Phasenverschiebung kommt. Dafür mussten wir eine neue Chip-Architektur entwickeln und das Feature-Setting darauf anpassen. So haben wir nun erstmals zwei Signalverarbeitungspfade auf einer Chipplattform, den klassischen und den ZeroDelay-Verarbeitungsweg.
Auch neu im Zuge der MOMENT-Einführung ist TruAcoustics. Welchen Nutzen bringt dieses Feature den Akustikern und Akustikerinnen?
Müller: TruAcoustics ist ein spannendes Feature, das eine unglaubliche Kraft hat. Wir haben im Zuge von TruAcoustics unsere Erkenntnisse über akustische Ankopplungen an individuellen Ohren erweitert. Dies gelang uns über ein langjähriges Projekt. Hier untersuchte unser Entwicklungsteam den Einfluss unterschiedlichster Otoplastiken und erstmals Domes an Hunderten von realen Ohren. Untersucht wurde hierbei die individuellen Venteffekte und Einfügedämpfungen. Der Forschungsaufwand war für uns wichtig, um noch mehr über die individuellen akustischen Gegebenheiten zu lernen. Anhand dieser Erkanntnisse können wir nun noch genauer die benötigte Verstärkung in Abhängigkeit der akustischen Ankopplung und des Gehörganges berechnen, um den Hörsystemträgern einen personalisierten Klang anbieten zu können. Doch TruAcoustics wirkt sich nicht nur auf die Verstärkung aus, es bildet den Grundstein in COMPASS GPS, um dem Hör- akustiker in einer übersichtlichen Darstellung durch die Anpassung zu begleiten. So werden z. B. mehr Informationen zu den Parametern des Anpassbereichs sowie Vorschläge zur An- kopplung geliefert.
Mit der Einführung von EVOKE hatte WidexSoundSenseLearn vorgestellt, eine Funktion, die über maschinelles Lernen dem Nutzer bei Bedarf in Echtzeit hilft, eine Hörsituation zu optimieren. Welche Erfahrungen hat Widex hiermit bisher gemacht? Und wie sind diese in die Entwicklung von MOMENT mit eingeflossen?
Müller: Wir haben ausgezeichnete Erfahrungen mit dem Machine Learning sammeln können. Für uns ist das deshalb so wertvoll, weil wir erfahren, in welchen Situationen das Feature angewendet wird. Auch dann, wenn das Hörsystem bereits ideal vom Hörakustiker eingestellt ist, gibt es den Bedarf nach individuellen Einstellungsoptionen. Denn Menschen verbinden mit dem natürlichen Hören Emotionen und Intentionen, die sich auch tagesaktuell verändern können. Man nutzt SoundSenseLearn allerdings nicht permanent, sondern nur dann, wenn man schnell und gezielt einen optimierteren Klang für die aktuelle Hörsituation wünscht. In der Vergangenheit konnten wir viel über die Lernkonvergenz, also die Annäherung an das gewünschte Ziel, erfahren. Hierdurch konnte SoundSenseLearn seine Lerngeschwindigkeit erhöhen und findet in der aktuellen Version in maximal 15 A/B-Vergleichen zum Ziel.
Braucht es für SoundSenseLearn immer die Verbindung mit dem Smartphone?
Luithle: Ja. Der Dual Core Prozessor in den Geräten unterstützt zwar die Bluetooth-Anbindung des Smartphones an das Hörsystem, für den Algorithmus nutzen wir allerdings die Rechenpower des Smartphones. Das vereinfacht auch die Handhabung für den Nutzer, weil wir so die A/B-Vergleiche visuell unterstützen können.
Man sagt ja immer, dass Machine Learning viele Daten braucht, um etwas lernen zu können. Kommen bei dieser Anwendung so viele Daten zusammen?
Müller: Tatsächlich kommt es nicht immer auf die Datenmenge an, sondern auf die Güte der Daten. Gepaart mit einem sehr intelligenten Machine Learning-Verfahren kann SoundSenseLearn das Lernziel schon nach wenigen Eingaben erlangen. Es ist also ein System, das mit wenig Daten einen großen Output mit Mehrwert liefert. Wichtig sind die Schlüsse, die man aus dem Verfahren zieht. Es gibt aber auch die Anzahl der Nutzerdaten in Summe Aufschluss über das Nutzerverhalten: z. B. in welchen Situationen SoundSenseLearn angewendet wird und was diese einzelnen Hörsituationen kennzeichnet.
Inwiefern profitieren Akustikerinnen und Akustiker hiervon? Einfach darüber, dass sie einen zufriedeneren Kunden haben?
Müller: Das geht weit darüber hinaus. Sound- Sense Learn ermöglicht es Hörakustikern, reale Hörsituationen zusammen mit seinem Kunden zu erforschen und diese Erkenntnisse in die Anpassung zu übertragen. Als Hörakustiker lernt man dadurch mehr über die Hörintentionen seines Kunden und kann besser auf dessen Wünsche eingehen. Das wirkt sich dann natürlich sehr positiv auf die Kundenbeziehung und weitere Anpassungsmöglichkeiten im Fachgeschäft aus.
Die Brennstoffzellentechnologie verfolgt Widex erst mal nicht weiter. Stattdessen setzen Sie auf Lithium-Ionen-Akkus. Welche Laufzeiten garantieren Sie hier? Und ist für Sie das Ende der konventionellen Batterie schon absehbar?
Buchhauser: Darüber werden letztendlich die Kunden der Fachbetriebe mit ihrem Kaufverhalten abstimmen. Die konventionelle Zink-Luft-Batterie ist derzeit das Maß aller Dinge einer jederzeit und überall zuverlässigen Energieversorgung. Deshalb wird die konventionelle Batterie weiter bestehen. Klar ist aber auch, dass die Handhabung, Komfort oder auch der Zeitgeist eine Rolle bei der Wahl der Technologie spielen. Aktuell wählen in Deutschland ca. 25 Prozent der Kunden Hörsysteme mit Lithium-Ionen-Akku, Tendenz leicht steigend. Mit unseren Akkus sind etwa 1500 Ladezyklen möglich sind, das sind dreieinhalb bis vier Jahre. Sollte innerhalb der gesetzlichen Gewährleistung beim Akku ein Defekt auftreten, wird dieser selbstverständlich ohne Berechnung ausgetauscht.
Auch die COMPASS GPS-Software wurde relauncht. Was ist hier neu?
Luithle: Neu ist, neben der Integration von TruAcoustics, vor allem unser 3-Schritt-Navigator, der den Anpassungsvorgang unterstützt. Zusätzlich haben wir eine optimierte Hörgerätevorauswahl, die die Geräte nach spezifischen Merkmalen selektiert. Wünscht sich ein Kunde zum Beispiel Hörsysteme mit Bluetooth, wähle ich das in der Software aus und bekomme dann angezeigt, welche Widex-Hörsysteme zur Verfügung stehen. Mit PureSound und dem ZeroDelay-Verarbeitungspfad haben wir ja nun einen zweiten Verarbeitungspfad, den man ebenfalls über die COMPASS GPS einstellen kann, um auch hier in der Feinanpassung individuell auf die Kundenwünsche eingehen zu können.
Kann man sagen, dass die neue Software einem in der Anpassung etwas mehr Arbeit abnimmt? Oder braucht man weiterhin seine volle Expertise?
Luithle: Natürlich ist immer noch die volle Expertise des Hörakustikers gefragt. Wir können mit der Anpasssoftware Vorschläge machen, basierend auf dem Audiogramm, auf Statistiken und Erfahrungswerten. Aber im Endeffekt sitzt der Hörakustiker mit seinem Kunden im Anpassraum und entscheidet, was für seinen Kunden Sinn ergibt. Mit dem Relaunch haben wir eine noch klarere Struktur im Anpassverlauf geschaffen und man benötigt weniger Klicks. So bekommt man als Anpasser von der Software zum Beispiel den passenden Hörer vorgeschlagen und eine passende Ankopplung. Bin ich als Akustiker damit einverstanden, klicke ich auf weiter und bin im nächsten Schritt. Bin ich anderer Meinung, kann ich meine eigenen Wünsche umsetzen und das in der COMPASS reflektieren.
Das heißt, man wird in der neuen COMPASS GPS nichts vermissen?
Luithle: Erfahrene Widex Anpasser werden in der neuen COMPASS GPS nichts vermissen. Hörakustiker können auf beinahe jedes Feature zugreifen und es beeinflussen. Der Hörakustiker kann Grundfunktionen anpassen und hat Zugriff auf die Verstärkungsfrequenzen. Die Sound-Classes sind einstellbar und der ZeroDelay-Verarbeitungspfad. Selbst wenn PureSound nicht automatisch vorgeschlagen wird, kann man es nachträglich hinzufügen. Dies bedeutet, dass der Hörakustiker in der Anpassung und Feinanpassung völlig frei ist.
Immer mehr Fachbetriebe setzen auf die Nutzung externer Anpasskonzepte. Unterstützen Sie das?
Müller: Wir beobachten auch, dass Anpasskonzepte von Dritten genutzt werden. COMPASS GPS schränkt den Hörakustiker bei der Verwendung unterschiedlicher Anpasskonzepte nicht ein. Wir nehmen dem Hörakustiker keine Optionen, ganz im Gegenteil.
Durch die zunehmende Filialisierung werden die Absatzkanäle weniger. Wie bindet Widex seine Kunden?
Buchhauser: Sicherlich kann man eine leicht zunehmendeFilialisierung beobachten, jedoch gibt es im Gegenzug auch viele Geschäftseröffnungen von bestehenden Kunden sowie Neugründungen von jungen Hörakustik-Meisterinnen und -Meistern. Wir haben bei Widex ein übergreifendes Motto: Geht nicht, gibt es nicht. Und wenn wir keine direkte Lösung haben, finden wir mit unseren Partnern eine. Zudem zählen bei uns Werte wie Freundlichkeit, Schnelligkeit, Transparenz und verlässliche Aussagen – also all das, was eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit dem Hörakustiker definiert. Darüber hinaus haben wir eine Vielzahl von Maßnahmen und Aktivitäten. Zuletzt z. B. die kundenfreundliche Umgestaltung der Homepage und der neue Online-Shop …
Luithle: … außerdem haben wir unsere Produkttrainings den aktuellen Gegebenheiten angepasst. Den Bereich unserer Online-Aktivitäten werden wir kontinuierlich ausbauen, so dass jederzeit ein Zugriff auf Widex-Wissen möglich ist. Im Herbst dieses Jahres werden wir außerdem ein Online-Event anbieten.
Müller: Das Herbst-Event wird etwas Besonderes sein, einerseits von der praktischen Trainingsseite, und andererseits von der wissenschaftlichen und audiologischen Seite. Im Rahmen dieses Events wird auch die Widex Academy stattfinden. Hörakustiker bekommen damit die Gelegenheit, Forschungsthemen, die in unsere tägliche Arbeit einfließen, unmittelbar von den jeweiligen Forschern zu erfahren.
Wir möchten auch auf die Fusion mit Sivantos zu WS Audiology zu sprechen kommen. Welchen Nutzen konnte Widex in Deutschland bisher daraus ziehen?
Buchhauser: Der Zusammenschluss hat für Widex in Deutschland keine Auswirkungen, vor allem nicht auf unsere Kundenbeziehungen. Vielmehr entsteht durch die Fusion eine noch schärfere Profilierung der Marken Audio Service, Signia und Widex. Schließlich ist das Ziel von WS AUDIOLOGY, weltweit die Nummer 1 zu werden. Das geht nur, wenn die Marken scharf differenziert sind und auch unterschiedliche Chipplattformen haben. Jedes Unternehmen hat also weiterhin seine Forscher und Entwickler, die die jeweilige Plattform weiterentwickeln.
Mit Blick auf Deutschland ist unser Eindruck, dass Ihre Kollegen in Erlangen etwas lauter sind als Sie in Stuttgart. Sehen wir das richtig?
Buchhauser: Signia hat seine Kommunikationskultur und Widex hat seine Kommunikationskultur. Daran soll und wird sich nichts ändern. Jede Marke wird ihre Markenpersönlichkeit behalten.
Herr Buchhauser, Herr Müller, Herr Luithle, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.