Hörkunst: „Wir wollten alles anders machen”
Was motiviert junge Menschen dazu, ein Hörakustikfachgeschäft zu eröffnen? Eine Frage, die sich immer wieder lohnt zu beleuchten, denn oft kommen dabei gute Ideen und Konzepte heraus.
Audio Infos besuchte daher in Iserlohn das Fachgeschäft „Hörkunst“ und sprach dort mit den Hörakustikmeistern und Junggründern Matthias Imhoff und Hannah Boeker.
Die Welt steht still. Diesen Satz hörte man in den letzten Monaten häufig. Kurzarbeit, Schulschließungen, stark eingeschränkte Reiseaktivitäten oder unterbrochene Lieferketten. Man kann diese Stillstandsperspektive teilen. Man kann aber auch die Gegenposition einnehmen und behaupten, dass sich die Welt selten so schnell verändert hat wie in den letzten Monaten.
Veränderungen sind ein stetiger Begleiter des Lebens und finden ständig statt. Manche sind entscheidungsabhängig, manche nicht. Oft stecken langanhaltende, schleichende Prozesse dahinter, oft treten sie aber auch plötzlich ein. Unabhängig davon, ob sich „etwas“ zum Positiven oder zum Negativen verändert, impliziert der Begriff, dass man einen Vergleich anstellen kann.
Der Vergleich fällt Hannah Boecker und Matthias Imhoff derzeit leicht. Beide haben ein Jahr großer Veränderungen hinter sich. Seit letzten Oktober ist das Hörakustikmeisterpaar selbstständig. „Hörkunst“ nennt sich ihr Projekt, das sich bereits wenige Wochen nach Eröffnung auch bis zur Audio Infos-Redaktion herumsprach.
Ende April, mitten im Lockdown, geht es also nach Iserlohn, mit rund 93.000 Einwohnern größte Stadt des Sauerlandes. Wie es der Zufall so will, suchten sich Hannah Boecker und Matthias Imhoff damit die gleiche Stadt aus, wie Pro3dure, über den Audio Infos bereits in der Juli-Ausgabe berichtete. Doch wie sich erst später herausstellen sollte, hatten zuvor weder der Materialhersteller noch die beiden Hörakustikmeister einen nennenswerten Bezug zu der Stadt. Beide sind lediglich der Überzeugung, mit Iserlohn den richtigen Standort für sich gefunden zu haben.
Warum das Matthias Imhoff und Hannah Boecker so empfinden, erkennt man bereits bei der Ankunft. Erinnerungen werden wach und der Gedanke an Hörstil in Erfurt kommt unmittelbar auf (siehe Audio Infos #214). Denn Hörkunst befindet sich in einer spätklassizistischen Villa abseits der Innenstadt. Und ähnlich wie die Erfurter muss man bei Hörkunst genau hinschauen, um zu wissen, dass sich im Erdgeschoss der Villa ein Hörakustikfachgeschäft befindet. Lediglich ein kleines Banner am Eingangstor weist den Weg. Auf ihm der Slogan: „Höre die Kunst der feinen Töne. Hörkunst“.
Nach einer kurzen Begrüßung führen die beiden Hörakustikmeister durch die wunderschönen Räumlichkeiten, die zumeist über ein mit Mosaiksteinchen bepflasterten Flur erreichbar sind. 1887 erbaut, besitzt das Erdgeschoss eine Nutzfläche von insgesamt 145m², die sich in zwei Anpassateliers, ein Büro und ein kleines Labor mit Küche aufteilen. Einen Warte- und Servicebereich, den es in nahezu allen Hörakustikfachgeschäften gibt, sucht man bei Hörkunst aber vergeblich. Wie kann das sein? „So etwas brauchen wir hier nicht. Gleiches gilt für Öffnungszeiten. Die braucht auch kein Mensch“, beginnt Hannah Boecker, als wir uns auf das jadegrüne Sofa im Anpassatelier setzen. Nachdem sie kurz von ihrem Kaffee genippt hat, setzt sie wieder an. „Das hat alles mit dem Aha-Moment zu tun, den wir hatten. Danach war schon irgendwie klar, dass sich etwas ändern muss. Sonst wäre ich vielleicht noch fünf Jahre in dem Beruf geblieben und danach wahrscheinlich ausgestiegen. Und das, obwohl ich ihn doch so sehr liebe.“
Über Umwege in die Hörbranche
Eine Aussage, die man Hannah Boecker sofort glaubt, wenn man weiß, dass die gelernte Systemgastronomin nach ihrer Ausbildung schon einmal ihr Arbeitsfeld wechselte und mehrere Jahre als Fitnesstrainerin arbeitete. Irgendwann aber wollte sie mehr. Durch eine Freundin, die bei einer Arbeitsagentur beschäftigt war, erhielt sie 2015 den Tipp, es mal mit Hörakustik zu versuchen. „Ich habe zwei Bewerbungen rausgeschickt und hatte kurz danach zwei unterschriftsreife Verträge auf dem Tisch. Da ich zuvor immer für große Ketten tätig war, entschloss ich mich dieses Mal bewusst für ein Familienunternehmen. Das war auch eine wirklich gute Entscheidung“, so Boecker.
Auch Matthias Imhoff fand erst über Umwege in die Hörakustik. Mit dem Unterschied, dass er von Beginn an ein Betätigungsfeld für sich suchte, in dem Technik und Mensch miteinander verzahnt sind. „Meine Eltern sind beide Ingenieure. Technik spielte daher schon immer eine große Rolle. Nach dem Abitur tendierte ich dazu, etwas in die Richtung Bionik zu machen. Deshalb begann ich auch zunächst ein Studium in Wirtschaftsingenieurwesen, bis ich durch Zufall auf eine Ausbildungsanzeige in der Münsterschen Zeitung stieß und mich aus Neugierde dort bewarb“, erklärt Imhoff.
Beiden gefällt die Ausbildung auf Anhieb. Sie werden gefördert, aber auch gefordert. Beispielsweise lernt Hannah Boecker unter ihrem alten Chef schon in der Ausbildung, wie man im hauseigenen Labor selbst IdOs baut. Relativ schnell ist daher klar, dass beide ebenso die Meisterausbildung dranhängen möchten. Matthias Imhoff geht sie bereits 2016 in Lübeck an, als Hannah Boecker noch mitten in der Ausbildung steckt. Lübeck ist auch der Ort, an dem sich die beiden kennenlernen. Zeitgleich mit der Meisterausbildung macht Imhoff das AEA-Diplom. „Ich habe das AEA-Diplom nicht gemacht, um irgendwann einmal ins Ausland zu gehen. Ich hatte einfach Lust auf ein wenig mehr und das Thema CI, das Teil meiner Abschlussarbeit war, hat mich schon in der Ausbildung fasziniert“, erläutert Imhoff.
Nach dem Studium wechselt er in den Betrieb, in dem auch Hannah Boecker beschäftigt ist. Kurz danach beginnt sie mit der Meisterausbildung, die sie in Köln und Lübeck in Teilzeit absolviert. Dennoch stellt sich im Laufe der Zeit bei beiden das Gefühl ein, sich beruflich nicht weiterentwickeln zu können. „Wir haben das immer an den Öffnungszeiten festgemacht, weil wir beide so wahnsinnig schlecht mit unproduktiver Zeit umgehen können. Wie sinnvoll ist es, am Freitag bis 18.00 Uhr zu warten, wenn partout nichts los ist? Wie viele andere war ich deshalb immer in der Situation, mir einen halben Tag Urlaub zu nehmen, um mal ein freies Wochenende haben zu können“, kritisiert Hannah Boecker, die glaubt, dass eine solche Systematik weder wirtschaftlich sei, noch die Mitarbeiter dauerhaft motiviert.
Die abnehmende Motivation, die beide damals einholt, sei jedoch nicht nur an den üblichen Öffnungszeiten festzumachen. „Klassischerweise trifft man in einem Hörakustikgeschäft auf ein eingespieltes System, das einfach funktioniert. Wenn man aber versucht, gewisse Dinge neu anzudenken und umzusetzen, die die anderen nicht machen, dann rennt man oft gegen eine Wand. Seit der Ausbildung habe ich das nicht anders gesehen. Auf Dauer bremst das einen nur aus“, argumentiert Imhoff weiter, der das im Verlaufe des Gesprächs an vielen kleinen Punkten illustriert. „Ich saß mal bei einer Präsentation von Acousticon und hörte dort einen Satz, der mir nie wieder aus dem Kopf rausgegangen ist. Ziel ist es, vor dem Kunden ein Feuerwerk abzubrennen. Wenn man aber als Einziger im Betrieb IMC2 vornehmen möchte, bevor das in der Ausbildertagung der Biha überhaupt angesprochen wird, und deine Umgebung zieht nicht mit, wie soll ich da ein Maximum für den Kunden herausholen? Das mag für viele passen, mich hat es jedoch nur demotiviert“, ärgert sich Imhoff noch heute.
Ein schicksalhaftes Wochenende
Dies hat sich nach einem Charity-Wochenende in Kaup am Rhein, das Signison-Geschäftsführer Andreas Perscheid als Mitglied bei Round Table Deutschland veranstaltet, mit einem Schlag verändert. „Als ich von 1000 Kinder Sehen und Hören erfuhr, habe ich zu Matthias gesagt, Geld haben wir zwar nicht, dafür jedoch jede Menge an Fachwissen. Komm, und lass uns da mitmachen. 50 Kinder zwischen 4 und 16 Jahren aus Osteuropa, alle WHO IV bis an Taubheit angrenzend, werden da an einem Wochenende versorgt. Weil mir das so gut gefallen hatte und Matthias nicht konnte, bin ich am drauffolgenden Wochenende noch einmal alleine hin und lernte dort Virginie und Benjamin Schadow kennen“, erinnert sich Hannah Boecker, die, als sie von dem Hörstil-Konzept erfuhr, das Konzept der Schadows nicht habe glauben können. „Ich war so schockiert, als mir Benjamin erzählte, keine Öffnungszeiten zu haben. Gleichzeitig war ich so begeistert, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie das funktioniert. Also lud uns Benjamin für ein Wochenende ein.“
Im November 2018 fuhren Matthias Imhoff und Hannah Boecker nach Erfurt. Nachdem sie sich alles angeschaut, zusammen gekocht und den Weihnachtsmarkt besucht hatten, entschlossen sich die beiden während der Rückfahrt auf der Autobahn, sich selbstständig zu machen. „Die erste halbe Stunde fiel kein Wort. Dann fragte Hannah, warum nicht? Als wir nach vier Stunden Diskussion keine entsprechende und sinnvolle Antwort darauf fanden, war der Selbständigkeitsgedanke nicht mehr aus der Welt zu bekommen“, sagt Matthias Imhoff. Natürlich habe man als Akustikerpaar beste Voraussetzungen gehabt, um eines Tages eine Selbständigkeit anzugehen. Ihr Umfeld habe sie schon vor Kaup dazu motiviert. Ausschlaggebend sei in ihrem Fall jedoch etwas ganz anderes gewesen. „Auch wenn der Zeitpunkt gewiss nicht optimal war, ist der Punkt doch eigentlich der: Man geht doch nur Veränderungen im Leben ein, wenn man unzufrieden ist. Und was bitte schön hatten wir zu verlieren?“, so Hannah Boecker.
Die Selbstständigkeit sollte aber nicht unmittelbar erfolgen. Beide einigten sich, zumindest die Meisterprüfung von Hannah Boecker abwarten zu wollen. Allerdings kam es auch hier alles anders. Im März 2019 entdeckt Boecker auf einer Immobilienplattform zufälligerweise eine für sie reizvolle Anzeige. „Ich dachte mir, das sei völlig utopisch. Wir hatten ja nichts. Kein Kredit, kein Antrag, nichts. Und ich stand ja noch vor der Prüfung. Dennoch wollte ich mir das anschauen. Wer aber konnte schon damit rechnen, dass uns sowohl der Makler, als auch die Vermieterin so nett finden, dass die mit der Vermietung noch einige Monate warten? Aber damit rollte dann der Stein“, berichtet die junge Hörakustikmeisterin.
Die Zusage der Vermieterin, bis in den September warten zu wollen, verschafft den beiden Hörakustikern die benötigte Zeit, um alles Notwendige vorzubereiten. Während Hannah Boecker sich auf die Meistprüfung vorbereitet und bis August weiterarbeitet, kann Matthias Imhoff alle Anträge vorbereiten, sich nach dem entsprechenden Equipment umschauen und das Erdgeschoss der Villa renovieren. Es bleibt sogar Zeit, sich einen Lebenstraum zu erfüllen. Er finished den Ironman in Hamburg. „Nachdem ich dieses private Ziel erreicht hatte, konnte ich nun auch die beruflichen Dinge endlich wieder mit freiem Kopf angehen. Ziel war ja immer, vor dem Kunden endlich ein Feuerwerk abzulassen“, so Imhoff.
Hochwertig, flexibel, individuell
Herausgekommen ist ein Betriebskonzept, das dem von Hörstil zwar ähnelt, aber gewiss nicht deckungsgleich ist. Abgesehen vom ungewöhnlichen Standort, den Hörstil und Hörkunst gemein haben, ist es vor allem die Herangehensweise, die beide Betriebe ausmacht. „Für uns war von Anfang an klar, dass wir alles anders machen wollten als alle anderen. Benjamin und Virginie haben uns darin einfach nur bestärkt. Man muss es sich trauen und die Sache einfach durchziehen. Das Ausschlaggebende in den ersten Monaten war, dass es manchmal echt anstrengend war, das auszusitzen. Man darf da nicht einknicken, sondern muss wirklich hinter der Sache stehen“, sagt Hannah Boecker.
Ein Beispiel ist das Marketing. Hier hat sich das junge Akustikerpaar vorgenommen, nicht jede „Säule mit Werbung zuzupflastern“. Printwerbung wird gemieden und falls doch, müsse sie sehr hochwertig sein. Auf Marketingunterstützung seitens der Hersteller oder etwa Kinowerbung möchte man daher verzichten. Viel lieber sei man auf Social Media Kanälen unterwegs, die man mit der eigenen Homepage verlinken könne. Ebenso wichtig sei ihnen, vor Ort zu netzwerken und mit den lokalen Selbsthilfegruppen in Kontakt zu kommen und dort persönliche Gespräche zu suchen.
Ein anderes Beispiel ist die Beratung. Termine seien so gelegt, dass der Kunde nicht erst im Vorraum warten muss, sondern den Weg sofort auf das Sofa findet. Weder benutze man einen Fragenkatalog, noch verfolge man eine Standardprozedur. „Es geht nicht darum, einen Fragenkatalog abzuarbeiten. Natürlich ist es wichtig zu wissen, ob zum Beispiel Mittelohrentzündungen schon mal stattgefunden haben. Aber das kommt sowie irgendwann raus. Mir geht es zunächst einmal darum, einen Menschen kennenzulernen. Ich will wissen, was er in seiner Freizeit macht, welche Interessen er verfolgt und vor allem, warum er mich aufsucht?“, sagt Matthias Imhoff. Wie groß oftmals die Kluft zwischen Beratungswunsch und Beratungsergebnis sei, könne man sehr schön anhand der Otoplastik-Thematik erkennen. „Wir wollten vermeiden, dass Leute so übergangen werden. In Hörakustikgeschäften wird meist vorausgesetzt, dass der Kunde ein durchsichtiges Ohrpassstück nimmt. Oftmals wird aber gar nicht gesagt, dass das auch farbig geht oder mit Strasssteinchen“, erzählt Hannah Boecker.
Deshalb beschäftigten sich die beiden jungen Inhaber auch mit der Frage, ob es nicht einen Weg gibt, Hörgeräte-Gehäuse individuell zu veredeln. Die Lösung, die sie hierzu fanden, heißt Wassertransferdruck. „Ich habe einen Schulfreund, der damit sich in Münster selbstständig gemacht hat. Es handelt sich um ein Verfahren, bei dem die Oberflächenspannung von Wasser genutzt wird, um zum Beispiel eine Hörgeräteschale zu foliieren. Der Vorteil dabei ist einfach, dass man die Folie vor allem bei kleinen Geräten und kleinen Oberflächen, vor allem für gewölbte Oberflächen, glatt draufbekommt“, erklärt Matthias Imhoff die Idee, die sich derzeit noch in der Erprobungsphase befindet.
Man könnte die Liste der „Veränderung“, die Matthias Imhoff und Hannah Boecker gegenüber ihrer alten Arbeitsweise vorgenommen haben, unentwegt fortführen. Ob nun in der Anpassung durch Audiosus, wie sie sich mit ihrem Produktportfolio aufstellen oder wie sie ihren Kundenumgang pflegen. Während des Gesprächs wurde bei jedem Punkt aber eines immer deutlich: Beide verstehen sich als Hörakustiker, die für sich einen komplett anderen Servicegedanken entwickelt haben und gleichzeitig wissen, sich ihrer Instrumente zu bedienen. Diese Möglichkeit bot sich ihnen lange nicht, doch ihre Bereitschaft für große Veränderungen gibt beiden heute den Raum, ihre Idee von Hörakustik auszuleben. Wie schrieb bereits der italienische Schriftsteller Tomasi di Lampedusa in seinem Roman „Der Leopard“: Wenn wir wollen, dass alles so bleibt wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.